Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
Schrift stand, es gebe verderbte Saat, die der Herr auszurotten gedächte. So überhörte der Geigenbauer geflissentlich das verzweifelte Betteln der Frau, die in Tränen aufgelöst auf Knien um Gnade und Nachsicht flehte. Er nahm die neue Saite einer Geige zur Hand. Später würde jemand darauf spielen, doch zunächst diente sie einem anderen Zweck ...
2.
Es war einer der Tage, an denen einem alles über den Kopf wuchs. Solche Tage hat es immer gegeben, und es wird sie weiterhin geben. In unregelmäßigen Abständen scheinen die Dinge, über die man nachzudenken hat, plötzlich an monströsem Wachstum zu erkranken.
Wir hatten nichts erreicht. Zwei Wochen lang hatten wir uns durch Leyen gefragt. Dort, wo man uns wegen unseres missverständlichen Ausrutschers am Sonntag zuvor nicht ohnehin gleich die Tür vor der Nase zuschlug, wusste man uns nicht zu helfen oder beklagte sich über Missstände, an denen wir nun weiß Gott nicht Schuld hatten.
Die Leute im Ort munkelten unter- und gegeneinander. Familie Finke lästerte über Familie Claussen, die wiederum etwas am Lehrer Wieland auszusetzen hatte.
Was den Unmut der Leute so schürte, blieb mir schleierhaft. Wenn es nicht direkt mit den Morden zu tun hatte, wollte ich es ehrlich gesagt auch gar nicht wissen.
So klapperten Hagen und ich Haustür um Haustür ab, während Salandar beschlossen hatte, sich lieber hilfesuchend in einem Stapel Bücher und in seinen Aufzeichnungen zu vergraben. Es war eine ärgerliche Zeit. Der arme verliebte Hagen litt zusätzlich darunter, dass ihn die Grafentochter nicht einmal mehr mit ihrem – zugegebenermaßen wirklich süßen und begehrenswerten – Gesäß ansah. Er tat mir ein wenig leid, aber da musste er wohl durch. Wir hatten uns in den Augen der Einwohner dieses kleinen, verschlafenen Städtchens offensichtlich wie die letzten peinlichen Trottel aufgeführt.
Zudem wurde das Wetter immer ungemütlicher, der Herbst war nun mit aller Endgültigkeit im Weserbergland angekommen und machte seinen zugesprochenen Gewohnheiten in Form von heftigen Regenfällen und klirrender Kälte alle Ehre. Ich machte mir schon Gedanken darüber, wie es damit weitergehen mochte, denn November und Dezember standen uns ja noch ins Haus. Marius tauchte von Zeit zu Zeit auf, zog es aber ansonsten vor, sich das räudige Katerfell vor dem heimischen Herd warmzuhalten, solange wir keine konkreten Ideen oder Pläne entwickelt hatten, wie wir vorankommen könnten. Stattdessen liefen Hagen und ich durch das Mistwetter und fingen uns diverse Unhöflichkeiten ein.
Wenigstens hatten wir eine warme, sogar recht luxuriöse Unterkunft. Aber wir wären auch ohne den gräflichen Pomp ausgekommen. Geld besaßen wir ja dank unserer erfolgreicheren Aufträge aus vergangenen Tagen im Überfluss.
Überhaupt waren wir bestens für das Leben in dieser abscheulichen Welt gerüstet. Mit einem armen Bauern, der im Winter zusehen musste, dass weder er und seine Familie noch sein Vieh verhungerte, mochte ich nicht tauschen. Da hatte das unstete Leben, das wir führten, doch einiges für sich. Wir hatten Geld, waren gebildet und gut erzogen. Wir konnten uns mühelos in jeder Gesellschaftsschicht bewegen, ohne aufzufallen, sofern man uns denn ließ. Unsere Chancen jedoch, uns in nächster Zeit in höheren Kreisen zu tummeln, tendierten allmählich gegen null.
Immerhin hatte Graf Thaddäus noch kein Missbehagen darüber geäußert, dass unsere Tätigkeit ergebnislos blieb. Sein Glaube, dass die Serie von Morden einer Widernatürlichkeit zu schulden war, schien unerschütterlich.
So kam es, dass wir uns zum sonntäglichen Gottesdienst in der Michaeliskirche einfanden, um den strengen Worten Pastor Steinbergs zu lauschen. Zwar interessierte sich niemand von uns dreien für kirchliche Lehrmeinungen in einer Welt, deren Pragmatik anderes als fromme Reden erforderte, allerdings war das Erscheinen im Gottesdienst eine unserer wenigen Möglichkeiten, guten Willen zu beweisen und unser Ansehen bei Pastor und Stadt nicht ins Bodenlose sinken zu lassen. Wenn wir in der Kirche saßen, brachen wir zur selben Zeit wenigstens nicht in anderer Leute Häuser ein.
An diesem folgenschweren Sonntag hatte die Familie des Kaufmanns Johannes Ehlert beschlossen, in ihrer Villa eine Matinee zu veranstalten, um den gehobenen Kindern der Stadt ein Forum zu geben, Aufmerksamkeit von der einen oder der anderen Seite zu erhaschen. Der Graf freute sich über das Vorhaben und hatte sogar jüngst seine
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