Langoliers
gewesen. Es war das Fenster des kleinen Zimmers neben der Waschküche. Das kleine Zimmer, das als Amys Büro fungierte. Dorthin ging sie, um Schecks auszustellen, um ihr Tagebuch zu führen, die Telefonate zu erledigen, die erledigt werden mussten … das Zimmer, wo, wie er vermutete, Amy vor mehreren Jahren angefangen hatte, einen Roman zu schreiben. Und als der Roman gestorben war, hatte sie ihn in diesem Zimmer pietätvoll und leise in der Schreibtischschublade begraben. Der Schreibtisch hatte am Fenster gestanden. Amy war morgens gerne dorthin gegangen. Sie konnte im Nebenzimmer die Wäsche hinstellen und dann Papierkram erledigen, während sie auf den Summton wartete, der verkündete, dass es Zeit war, die Wäsche von der Waschmaschine in den Trockner zu befördern. Das Zimmer lag ein gutes Stück vom Haupthaus entfernt, und ihr gefiel die Ruhe, sagte sie. Die Ruhe und das leise, klare Morgenlicht. Sie sah gerne ab und zu zum Fenster hinaus und betrachtete ihre Blumen, die in der Ecke zwischen Haus und Arbeitszimmerwand wuchsen. Und er hörte sie sagen: Es ist das schönste Zimmer im ganzen Haus, jedenfalls für mich, weil außer mir kaum jemand dorthin geht. Es hat ein heimliches Fenster, und man kann durch dieses Fenster auf einen heimlichen Garten sehen.
»Mort?« sagte Amy jetzt, und einen Augenblick nahm Mort gar keine Notiz davon, weil er ihre wirkliche Stimme mit der Stimme in seinen Erinnerungen verwechselte. Aber waren es richtige oder falsche Erinnerungen? Das war die Frage, oder nicht? Es schienen richtige Erinnerungen zu sein, aber er hatte schon vor Shooter und Bump und dem Feuer unter großem Stress gelitten. War es nicht wenigstens möglich, dass er eine … nun, eine Erinnerungshalluzination hatte? Dass er seine Vergangenheit mit Amy irgendwie hinbiegen wollte, dass sie zu der gottverdammten Geschichte passte, in der ein Mann verrückt geworden war und seine Frau ermordet hatte?
Herrgott, ich hoffe nicht. Ich hoffe nicht, denn wenn, bin ich näher am Rande des Nervenzusammenbruchs, als mir lieb ist.
»Mort, alles in Ordnung?« fragte Amy. Sie zupfte hektisch an seinem Ärmel und löste damit wenigstens vorübergehend seine Trance.
»Ja«, sagte er, und dann unvermittelt: »Nein. Um die Wahrheit zu sagen, mir ist etwas schlecht.«
»Vielleicht das Frühstück«, sagte Ted.
Amy warf ihm einen Blick zu, bei dem es Mort etwas besser ging. Es war kein besonders freundlicher Blick. »Es ist nicht das Frühstück«, sagte sie ein wenig indigniert. Sie deutete mit einer Armbewegung auf die schwarzen Ruinen. »Es ist das. Lass uns von hier verschwinden.«
»Die Versicherungsleute wollen um die Mittagszeit kommen«, sagte Ted.
»Nun, bis dahin ist noch über eine Stunde Zeit. Gehen wir zu dir, Ted. Mir geht es auch nicht besonders. Ich möchte mich gern setzen.«
»Na gut.« Ted sprach mit einem leicht verschnupften Kein-Grund-gleich-zu-schreien-Tonfall, der Morts Herz ebenfalls gut tat. Und obwohl er heute morgen beim Frühstück noch gesagt hätte, zu Ted Milner wolle er als allerletztes auf der Welt, begleitete er sie ohne Widerworte.
19
Auf dem Weg quer durch die Stadt zu dem Zweifamilienhaus, wo Ted seinen Hut aufhängte und sein Wasserbett stehen hatte (welches zweifellos das Playboy-Gütesiegel trug, dachte Mort gemeinerweise, waren sie alle still. Er wusste nicht, woran Amy und Ted dachten, vermutete aber, Amy würde an das Haus denken und Ted daran, ob sie rechtzeitig zum Treffen mit den Leuten von der Versicherung kommen würden; er wusste allerdings, worüber er nachdachte. Er versuchte zu entscheiden, ob er verrückt wurde oder nicht.
Er kam schließlich zum Ergebnis, dass Amy das über das Zimmer neben der Waschküche tatsächlich gesagt hatte – es war keine falsche Erinnerung. Hatte sie es vor 1982 gesagt, als ›John Shooter‹ angeblich eine Geschichte mit dem Titel ›Das heimliche Fenster, der heimliche Garten‹ geschrieben hatte? Er wusste es nicht. So sehr er sein verwirrtes und schmerzendes Hirn auch zermarterte, er erhielt immer nur eine knappe Botschaft: Antwort fraglich. Aber wenn sie es gesagt hatte, ganz egal wann, konnte der Titel von Shooters Geschichte nicht trotzdem reiner Zufall sein? Vielleicht, aber die Zufälle häuften sich, oder nicht? Er war zur Überzeugung gekommen, das Feuer war, musste, Zufall sein. Aber die Erinnerung, die Amys Garten mit seiner Ernte toter Blumen ausgelöst hatte … nun, es fiel ihm immer schwerer zu glauben, dass das alles
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