Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
Entropie-Attacken wie etwa einer Krankheit oder einer harten Party zu alter Form zu finden und sich zu regenerieren. Auch äußerlich zeigen sich deutliche Symptome einer zunehmenden Entropie wie etwa das Runzeln der Haut oder das Ausfallen der Haare. Und auch die Tatsache, dass die straffen Muskeln immer weniger und die wabbligen Fettdepots dafür immer mehr werden, muss man als Übergang von einem entropiearmen zu einem entropiereichen Gewebe interpretieren.
Letzten Endes können wir den Triumphzug der Entropie in unserem Körper zwar nicht aufhalten, aber wir können ihn verzögern. Natürlich nicht, indem ich ihn mit noch mehr Entropie füttere, denn das wäre so, als wollte ich einen Alkoholiker mit einer Flasche Schnaps von seinem Leiden befreien. Gegen einen immer größer werdenden Grad der Unordnung kann es logischerweise nur ein Gegenmittel geben: Ordnung. Was aber nicht heißen soll, dass sich das betreffende Lebewesen abkapselt und alle äußeren Einflüsse meidet, um dadurch jeglicher Unordnung schon im Vorhinein aus dem Weg zu gehen. Denn ohne Austausch mit der Umwelt, wie etwa Ernährung und Ausscheidung sowie Ein- und Ausatmen, wäre es ja gar kein Lebe-Wesen. Es geht vielmehr darum, in der ständigen Interaktion mit der Umwelt das höchste Maß an Ordnung bzw. den niedrigsten Grad von Entropie für sich zu finden. Bakterien schaffen das in der Regel, ohne viel nachzudenken. Beim Menschen verhält es sich jedoch ein wenig komplizierter.
Als Wesen mit einem Bewusstsein kann er nämlich sein Leben weitaus individueller gestalten als eine Bakterie. So kann er etwa nach einer akuten Stressreaktion zur Zigarette greifen oder einfach einen ruhigen Spaziergang durch den Wald drehen. Ersteres steigert durch das anregende Nikotin die ohnehin schon in ihm aufwogende Entropie, durch Letzteres wird sie gedämpft. Oder er kann die Gleitzeitregelung an seinem Arbeitsplatz dazu nutzen, seinen Dienst immer zu wechselnden Uhrzeiten anzutreten. Dies würde seine Entropie steigern, weil sein Körper sich nicht auf einen stabilen Biorhythmus einstellen kann und immer wieder neue, anstrengende Anpassungsleistungen von ihm gefordert werden. Würde er hingegen trotz Gleitzeit immer zur gleichen Uhrzeit zur Arbeit gehen, würde dies den Grad der Entropie senken, weil sein Körper sich auf einen festen Rhythmus einpendeln und dadurch Kräfte sparen kann.
Der Mensch kann also bis zu einem gewissen Grad entscheiden , ob er mehr Ordnung in sein Leben bringt und dadurch das Fortschreiten der Entropie verzögert. Entscheidet er sich dagegen, wird er wahrscheinlich früher sterben als andere. Entscheidet er sich dafür, wird er wahrscheinlich länger leben als andere.
Es wäre daher nur naheliegend, dass sich die meisten Menschen für die erste Alternative entscheiden und sich von Ordnungsliebe leiten lassen – denn alt werden will jeder. Das Problem ist allerdings, dass Ordnung kein gutes Image hat und als sterbenslangweilig gilt. Dies wiederum hängt wesentlich damit zusammen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die individuelle Freiheit ziemlich hoch gewichtet wird. Oder um in der Spur dieses Kapitels zu bleiben: Wir leben in einer Epoche der gesellschaftlichen Entropie, die den einzelnen Teilchen – sprich: den einzelnen Menschen – sehr viele Freiräume einräumt, auch auf die Gefahr hin, dass dabei das ganze System untergeht. In solch einem Klima des »Ich bin wer« und »Das System kann mich mal« will kaum jemand als Ordnungsliebhaber
in Erscheinung treten; das passt einfach nicht. In Japan wird das Individuum traditionell weniger hoch gewichtet. Deswegen ist es kein Zufall, dass dort –, obwohl die Sozial-und Wirtschaftsverhältnisse ähnlich sind wie bei uns –, weltweit die meisten Hundertjährigen leben. Der Grund: Wer sich weniger als Super-Ego denn als Teil eines Systems versteht, hat weniger Probleme damit, sich auch im Alltag einer Ordnung zu unterwerfen – und das trägt weit mehr zur Lebensverlängerung bei als Grüntee, Fisch und Zen-Buddhismus, die bisher als Verantwortliche für die fernöstlichen Methusalems gehandelt werden.
Ordnung hat also ein Imageproblem, und so rasen hierzulande viele Menschen ungeordnet durch ihr Leben, mit der Konsequenz, dass dieses früher endet, als es tatsächlich im Bereich des Möglichen wäre. Aber damit nicht genug. Ordnung hat auch das Problem, dass sie, wie wir bereits am Eingang des Kapitels festgehalten haben, eher im Hintergrund wirkt. Egal, ob in
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