Lanze und Rose
noch häufig vor, dass er schweißgebadet und entsetzt aus dem Schlaf hochfuhr und mit erstickter Stimme nach seinem Bruder rief. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass er Ranald nie wieder sehen würde. Oft drehte er sich um und rechnete damit, ihn hinter sich zu sehen, lächelnd wie immer, denn sein Bruder hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihm wie ein Schatten zu folgen. Jetzt steckte Ranalds Sgian dhu zusammen mit seinem eigenen in seinem rechten Stiefelschaft. Duncan hatte mit Ranald mehr als einen Bruder verloren. Ran war auch alles gewesen, das zu sein er sich erträumte, aber nicht war: tollkühn, witzig, hart gegen sich selbst. Vielleicht hatte ja der Umstand, dass er bei dem Unfall in der Destillerie um Haaresbreite dem Tod entronnen war, seinem Bruder die Fähigkeit verliehen, den Augenblick vollständig auszukosten. Plötzlich schoss ihm eine
widersinnige Frage durch den Kopf: Ob sein Bruder vor seinem Tod wohl jemals bei einer Frau gelegen hatte?
Sie war heute nicht gekommen, und gestern ebenfalls nicht. Duncan fühlte sich gereizt. Seit der Rückkehr ihres Vaters vor drei Tagen hatte Marion sich überhaupt nicht blicken lassen. Was mochte geschehen sein? Hatte er etwas gesagt, das sie verärgert hatte? Und dabei wog er seine Worte so sorgfältig ab, wenn er mit ihr zusammen war. Ging sie ihm aus dem Weg? Er konnte sich den Kopf zerbrechen, wie er wollte, er kam nicht darauf, wie er sie verstimmt haben sollte.
Er blieb in der Ropemaker’s Close stehen, vor dem Haus, in dem sie logierte. Seine Füße versanken im Schlamm. Wenn sie ihn tatsächlich nicht sehen wollte, würde sie ihm gewiss keinen freundlichen Empfang bereiten. Er zögerte noch einen Moment und wandte sich dann zum Gehen. Ebenso gut konnte er noch ein wenig abwarten. Vielleicht würde er sie in der Küche des Hospitals finden…
»Wartet! So wartet doch, Mr. Macdonald!«, rief ihn eine näselnde Stimme von oben an.
Er schaute hoch und erblickte Barb Macnabs rundliches Gesicht.
»Bleibt, wo Ihr seid, ich komme herunter.«
Die Fensterläden schlossen sich mit einem Knall. Kurz darauf erschien die Dienstmagd in der Tür und bedeutete ihm, er solle eintreten. Mit einem Mal hatte Duncan ein flaues Gefühl im Magen. Zum ersten Mal kam ihm die Idee, dass Marion krank sein könnte.
»Wo ist Marion?«, fragte er ohne Umschweife und trat in die Eingangshalle, deren Fenster unverglast waren.
Die kleine Dienerin erschauerte vor Kälte, dass ihre Rundungen erbebten.
»Sie ist abgereist. Sie wollte Euch sehen, bevor sie Perth verließ, doch Ihr wart nicht zu finden…«
»Abgereist? Hat ihr Vater sie nach Hause geschickt?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Haube verrutschte, und sie rückte sie mit einer knappen Bewegung zurecht.
»Nein … Ihr Bruder John ist seit dem Tag der Schlacht verschwunden…«
»Das wusste ich bereits. Ich habe es gestern gehört.«
Sie warf ihm einen strengen Blick zu und fuhr dann in schärferem Ton fort.
»Sie hat sich auf die Suche nach ihm gemacht.«
»Wie bitte?«
»Zusammen mit Macgregors Männern, möge Gott sie beschützen!« , schloss sie und rieb sich die kalten Arme.
»Ihr meint, sie ist allein mit ihnen aufgebrochen?«
Er traute seinen Ohren nicht. Er wusste ja, das sie mutig und beherzt war, aber eine solche Tollkühnheit hätte er ihr nicht zugetraut. Das war doch Wahnsinn! Der Zorn stieg ihm in die Kehle und drohte, aus ihm herauszuplatzen.
»Hätte Euer Laird nicht seine Männer auf die Suche nach seinem Sohn schicken können, statt seine Tochter einer Bande von … statt sie ausgerechnet den Macgregors anzuvertrauen?«
»Ihr Vater weiß gar nichts davon«, gestand die kleine Frau, die nicht verbarg, dass sie selbst besorgt war. »Der Earl of Breadalbane hat Marion gezwungen, mit diesen Männern zu reiten.«
»Breadalbane … Dieser alte schleimige Aal. Herrgott! Aber wieso Marion?«
»Das ist ein wenig kompliziert; aber meine Herrin hat eine große Dummheit begangen, die sie wiedergutmachen muss.«
»Eine Dummheit?«
»Mehr wollte sie mir nicht sagen. Ich weiß nichts darüber. Aber sie war schrecklich aufgebracht. Sie war nicht einmal in der Lage, ihre Reisetasche richtig zu packen; sie wusste nicht mehr, was sie hineingetan hatte und was nicht.«
»Wann ist sie aufgebrochen?«
»Vor drei Tagen…«
»Vor drei Tagen schon? Und Ihr habt mich nicht benachrichtigt?«
»Sie wollte Euch ja sehen, bevor sie abgereist ist. Aber sie hat mir keine Nachricht für Euch hinterlassen, da habe
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