Lanze und Rose
entsprechende Tür. »In den Regalen werdet ihr sicherlich eine Flasche Whisky finden. Bedient euch, ich bin gleich zurück.«
Dann drehte sie sich um und ging in die Küche, die am Ende des Flurs lag.
Amelia saß am Ende des langen, von den Spuren der Zeit und der Küchenarbeit gezeichneten Tisches aus Kiefernholz. Sie schälte Rüben, die sie dann in einen großen, schwarzen Topf warf. Die alte Köchin blickte von dem Berg von Schalen hoch, der vor ihr lag. Dann strahlte ihr schmales, von vielen arbeitsreichen Jahren gezeichnetes Gesicht. Sie zog die altersschwachen Augen zusammen und zögerte einen Moment lang.
»Oh!«, rief sie dann aus und sprang auf. »Mórag Bheag ! Kleine Marion!«
Sie stürzte auf Marion zu und schloss sie fest in ihre ausgemergelten Arme. Dann trat sie ein wenig zurück, um sie besser ansehen zu können. Ihre braunen Augen funkelten vor Freude.
»A Mhórag, ciamar than thu ?« Wie geht es Euch, Marion?
»Tha mi gu math .« Mir geht es gut.
»Tha Dàibhidh shuas an stighre, chaidh Iain à-mach …« David ist oben, und John ist ausgeritten …
Alles Blut wich aus Marions Gesicht. Besorgt runzelte Amelia die Stirn und schob die junge Frau auf einen Stuhl zu.
»Am bheil thu gu math ?« Geht es Euch wirklich gut?
»A bheil Iain ann ?« John ist hier?
Ihre Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an. Verständnislos musterte die alte Frau sie.
»Tha . Sicher doch«, antwortete sie, als könne es gar nicht anders sein.
»A Thiarna ! Mein Gott! Wo ist er?«
»Er ist fortgeritten, um ein Problem bei dem alten MacOwen in Innerwick zu regeln. Zum Abendessen müsste er eigentlich zurück sein.«
Amelia beobachtete Marion argwöhnisch.
»Soll ich Euch Euren Lieblingsbraten machen, meine Kleine?«
»Ähem… Ja, gut«, murmelte die junge Frau und griff nach der Hand der Köchin.
Sie lächelte matt. Merkwürdigerweise ließ ihr die Vorstellung, den Braten zu kosten, von dem sie so lange geträumt hatte, nicht länger das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»John wird sich bestimmt sehr freuen, Euch wiederzusehen. Seit seiner Rückkehr kommt er mir ziemlich bedrückt vor.«
Bedrückt? Das konnte Marion sich gut vorstellen. Allerdings bezweifelte sie, dass ihr Auftauchen in ihrem Bruder auch nur die geringste Spur von Freude auslösen würde. Er hatte ihr Rechenschaft abzulegen, ihr zu erklären, wo er wochenlang gesteckt hatte, und er musste ihr das Dokument zurückgeben, damit sie es so rasch wie möglich nach Finlarig bringen konnte.
Das Zuschlagen einer Tür und Schritte, die auf der Treppe zu vernehmen waren, holten sie in die Wirklichkeit zurück. Aus dem Flur drangen Männerstimmen zu ihr. Vermutlich hatte David die Bekanntschaft der vier Männer gemacht, die im Arbeitszimmer ihres Vaters warteten. Amelia, die die Stimmen ebenfalls gehört hatte, wollte schon davoneilen, doch Marion hielt sie am Ärmel fest.
»Ich hatte ganz vergessen, Euch zu sagen, dass wir Gäste haben, Mamie…«
Die Miene der alten Frau verdüsterte sich. Für gewöhnlich nannte Marion sie »Mamie«, wenn sie etwas angestellt hatte oder sich eine besondere Gunst erbetteln wollte.
»Ich möchte, dass Ihr sie mit Achtung behandelt.«
»Dürfte ich denn auch erfahren, wer meinen Braten essen soll?«
»Robert Roy Macgregor und einer seiner Männer…«
»Heilige Muttergottes!«
»Und Duncan und Colin Macdonald.«
»Macdonald?«
»Aus Glencoe, Amelia.«
Eine entsetzte Miene malte sich auf dem langen, zerfurchten Gesicht ab, und die Köchin bekreuzigte sich.
»Nicht genug, dass sie unsere Kühe stehlen; jetzt soll ich sie ihnen auch noch braten!«, rief sie empört aus.
Marion hatte nicht die geringste Vorstellung, wie sie ihren Bruder auf das verschollene Dokument ansprechen sollte. Im Raum herrschte angespanntes Schweigen. Nervös schritt John auf dem antiken französischen Teppich mit dem Rosenmuster auf und ab, den ihre Mutter so geliebt hatte; Hinterlassenschaft einer längst vergangenen Epoche, in der die Campbells wohlhabend gewesen waren. In der Hand hielt er ein bis zum Rand gefülltes Glas Whisky, das immer wieder überschwappte, so dass die Flüssigkeit auf die verblassten wollenen Rosen tropfte. Als er bemerkte, dass sich alle Blicke auf ihn richteten, rang er sein Zittern nieder.
Er war vor einigen Minuten zurückgekehrt. Offensichtlich war er nicht erfreut darüber, seine Schwester wiederzusehen. Zuerst hatte er einige Augenblicke lang wie versteinert dagestanden. Dann hatte sein Gesicht eine
Weitere Kostenlose Bücher