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Lanze und Rose

Lanze und Rose

Titel: Lanze und Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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war es das Königreich von Alba gewesen und schließlich das Königreich der Scotii.
    Ich legte die Wange an den kalten Stein, der meine Haut leicht ertauben ließ, und spürte die Unebenheiten der komplizierten Motive, die das Kreuz bildeten, eine Hinterlassenschaft aus einer anderen Zeit. Dieses mit so viel Sorgfalt in den Stein ziselierte Kreuz war gleichsam ein Abdruck, den die flüchtige Existenz eines Menschen hier hinterlassen hatte; so etwas wie die Signatur eines unbekannten Lebens, gegraben in den Stein, der beständig und unempfindlich gegenüber dem Zahn der Zeit war, der an ihm nagte.
    Unsere Erinnerungen überdauern in unserem Gedächtnis, doch sie vergehen zusammen mit uns. Diese Granitstelen waren Stein gewordene Geschichte. Schottland besaß ein Übermaß an solchen Steinen, die den Lauf der Welt bezeichneten. Dieses Kreuz stammte vielleicht aus der Zeit der beginnenden Christianisierung
der piktischen Stämme um die Mitte des ersten Jahrtausends.
    Columba, ein keltischer christlicher Mönch, war aus meiner Heimat Irland in dieses vom Nebel des Heidentums der Pikten umfangene Bergland gekommen. Er war ein Prinz von königlichem Blut gewesen, der, von einer schweren Schuld gebeugt, Titel und Reichtümer aufgegeben hatte, um ebenso viele Seelen zu bekehren, wie in der letzten blutigen Schlacht um Irland, die er verschuldet hatte, ums Leben gekommen waren. So hatte er das Meer überquert und den Fuß auf die gälische Küste gesetzt, in das Königreich der Scoten von Dalriada in der heutigen Grafschaft Argyle.
    Der König der Scoten schenkte ihm Iona, eine kleine Insel vor Mull, wo er ein Kloster erbaut hatte. Dann machte er sich mit seinen Jüngern daran, in jedem Winkel des heidnischen Schottlands das Evangelium zu predigen. Doch der piktische König Brude und seine Druiden waren ihm feindlich gesonnen. Wie immer, wenn sich auf dieser niederen Welt eine Veränderung zuträgt, floss Blut. Doch Columba hatte, durch Zufall oder mit Gottes Hilfe, einige kleine Wunder vollbracht. So hatte er einem Mann das Leben gerettet und ihn aus dem gähnenden, brüllenden Rachen einer grauenerregenden Kreatur gezogen, die den düsteren Wassern des Loch Ness entstiegen war. Brude soll daraufhin erkannt haben, dass sein Gott und der, den er Christus nannte, über große Macht verfügten, und zum Christentum übergetreten sein. Weniger als hundert Jahre später war Schottland christlich geworden.
    Einige der aufrecht stehenden Steine, die aus dieser Zeit stammten, waren mit geheimnisvollen Inschriften in der Ogham-Schrift und mit heidnischen Symbolen bedeckt, die Mondsicheln, Schlangen, Wölfe und bewaffnete Krieger darstellten. Berichteten sie über wirkliche Ereignisse? Oder waren sie religiöser Natur? Wie auch immer, man fand sie überall in den Highlands, und die geheimnisvolle Aura, die sie immer noch umgab, sorgte dafür, dass niemand versuchte, sie zu entweihen.
    Eine ganze Weile hatte ich so dagesessen, und langsam begann ich, in der feuchten Kälte zu zittern. Ich spürte, dass jemand
hinter mir stand, und wandte den Kopf, als mir eine Hand über die Wange strich.
    »Geht es, a ghràidh ?«
    Traurig lächelte ich zu Liam auf.
    »Ist schon gut«, gab ich zurück. Meine Stimme klang rau vor Kummer.
    Liam liebkoste Frances’ Wange. Sie hatte sich in ihren Umhang gewickelt und schien eingeschlummert zu sein.
    »Sie wird darüber hinwegkommen«, flüsterte er.
    Ja, so wie wir alle über unsere Verluste hinwegkommen… So wie wir nach Ranalds Tod. So wie du, nachdem du Anna und Coll verloren hattest. Zu Beginn wünschen wir uns, wir wären mit den Toten gestorben. Wir wünschen, die Sonne würde verlöschen und die Erde aufhören, sich zu drehen. Dann bricht ein neuer Tag an, und noch einer, und zwingt uns, unseren Verlust nach und nach anzunehmen. Obwohl, wie soll man etwas so Niederschmetterndes wie den Verlust eines geliebten Menschen akzeptieren? Der Glaube ist wie eine ausgestreckte Hand, die uns hilft, unsere Prüfungen zu bestehen …
    »Aber er erspart sie uns nicht…«, beendete ich meinen Gedanken laut.
    »Was sagst du?«
    »Ähem… Nichts, gar nichts. Wir müssen weiter. Es ist kalt, und wir haben noch einen langen Weg vor uns«, meinte ich und schüttelte Frances sanft.
    Aus verstörten Augen blickte sie in die Wirklichkeit und wirkte ein wenig verwirrt. Als ihre Erinnerungen zurückkehrten, verdüsterten sich ihre Züge, und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.
    »Mutter«, murmelte sie und hielt

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