Lass es bloss nicht Liebe sein
Lassen Sie mich erst mal weitererzählen. Er inspiziert die Ölkannen und gewahrt aus den Augenwinkeln heraus…«
» …ein wunderhübsches Mädchen«, warf sie ein. » Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie das in Sagen und Legenden abläuft? Es ist nie ein hässliches Mädchen oder eine interessante Felsformation.«
» Er ist ein Gott, er hat Halbgötter um sich geschart, die ihn auf dergleichen aufmerksam machen. Folglich sieht er sie, sie sitzt an einem Fluss, hingegossen auf einer weichen rotsamtenen Decke, und er denkt, hmmm, Klassefrau. Er weiß, wenn er hinunterschweben und sich ihr zu erkennen geben würde, wäre sie paralysiert von seiner Aura, also muss er sich tarnen.«
» Lassen Sie mich mal raten«, sagte Lily. » Er verwandelt sich in einen Schwan, stimmt’s?«
» Sie wollten eine Geschichte. Ich kenn nicht so viele. Wenn Sie mögen, erzählen Sie ruhig weiter.«
» Der Schwan vernascht sie, sie wird schwanger und bekommt einen Haufen kleiner Schreihälse, einer davon ist die schöne Helena von Troja.«
» Sie erzählen das ausgesprochen eloquent.«
» Ich kenne die Geschichte, finden Sie mal eine, die ich noch nicht kenne.«
» Bin ich Jesus? Keine Ahnung, welche Geschichten Sie kennen und welche nicht.«
Sie hätte die Klappe halten und ihn weitererzählen lassen sollen, denn jetzt war er definitiv sauer auf sie.
» Ich versuch mal, ein bisschen zu schlafen«, grummelte er.
Er lernt stundenlang Gedichte auswendig– und was passiert: Sie will unbedingt eine Geschichte hören! Zumal er nicht bereit war, ein Gedicht zu rezitieren, solange sie ihn nicht gezielt darauf ansprach. Er betrachtete sie in dem dämmrigen Raum, eben zog sie den dünnen blassgrünen Kimono fester um ihren fröstelnden Körper. Sollte er ihr vorschlagen, dichter an ihn heranzurücken und sich an ihm zu wärmen? Nein, das war zu gewagt, immerhin trug sie bloß dieses aufreizende Seidenteil. Nachher verselbstständigten sich seine Finger, und was dann? Er drehte sich mit dem Rücken zu ihr. Ihr war kalt, sie war einsam… und mit einem anderen Mann zusammen. Dieser Mann hatte zwar die älteren Rechte, er war aber nicht greifbar, um sie zu wärmen. Aus den Augen, aus dem Sinn? Nein, das passte nicht zu Lily. Zweifellos liebte sie Robbie, und wenn er, William, klug war, hielt er sich aus dieser Beziehung raus.
Wie William in der kalten Bude schlafen konnte, war Lily schleierhaft. Für sie lag die gefühlte Temperatur inzwischen um den Gefrierpunkt, ihr knurrte der Magen vor Hunger, und sie musste mal dringend auf ein gewisses Örtchen.
Ihr Blick klebte an seinem Rücken. Er hatte sich eine ganze Weile nicht mehr bewegt. Sie rief leise seinen Namen. Typisch Mann. Knackt von einer Sekunde auf die nächste ein und schnarcht friedlich vor sich hin.
Dieser Mann gab ihr Rätsel auf. Sie betrachtete ihn von der Seite, verfolgte, wie sich sein Brustkorb gleichmäßig hob und senkte. Hatte er in London jemanden, der auf ihn wartete? Lebte er in einer festen Beziehung? Ein Typ wie er? Ganz bestimmt. Sie zog die Knie an, rollte sich zusammen wie eine kleine Katze, bettete ihr Gesicht auf die Hände. Sie wurde ständig von irgendwelchen Männern angemacht und hatte eine ganze Liste von Abfuhren parat, höfliche und weniger höfliche. Bislang war sie auf keine dieser Anmachen eingegangen, denn sie liebte Robbie. Mittlerweile fieberte sie Williams Besuchen jedoch regelrecht entgegen, sie mochte seinen Humor, seine ruhige, zurückhaltende Art und fuhr nicht zuletzt auf sein blendendes Aussehen ab.
Sie versuchte, den Kimono über ihre Füße zu ziehen. Es war schlimm mit ihr, seufzte sie stumm. Sie freute sich auf seine Besuche, weil sie einsam und frustriert war. Wie eine Katze, die einem anhänglich um die Beine strich, weil sie gestreichelt werden wollte.
Die Nacht zog sich hin. Draußen war es still. Bis auf die leise monotone Geräuschkulisse der Großstadt und die Sirenen von Polizei und Feuerwehr.
Es war kalt. Schweinemäßig kalt. Sie spähte abermals zu William. Wahrscheinlich schlief er so fest, dass er es nicht mal merken würde, wenn sie näher an ihn heranrückte. Sie bräuchte ihn nicht einmal zu berühren, um ein bisschen von seiner Wärme abzubekommen.
Sie robbte vorsichtig zu ihm hin und tippte mit einem Finger sanft auf sein Schulterblatt. Keine Reaktion.
Dann streckte er sich wohlig.
» Komm und leg dich neben mich. Ich wärm dich.«
Seine Stimme klang weich und zärtlich wie ein lockendes Versprechen–
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