Lass Es Gut Sein
auch die Römisch-Katholische Weltkirche im Sinne des Abaelard (1079–1142) im strengen Sinn eine »Sekte«? In seinem »Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen« schrieb er: »Die Bindung eines jeden an seine eigene Sekte macht die Menschen dünkelhaft und so überheblich, dass jeder, der sich von ihrem Glauben zu entfernen scheint, deshalb in ihren Augen auch der göttlichen Barmherzigkeit verlustig geht und dass sie für sich allein Glückseligkeit beanspruchen, während sie alle anderen der Verdammnis preisgeben.« Sekte – das Abgeteilte!
Welterlösungsideologien neigen zu Säuberungsutopien.
Die Kreuzzüge wie auch die Inquisition in der Geschichte des Christentums gehören zu den grausamen, religiös verbrämten christlichen Wahrheitsfanatikerexzessen mit Erlösungsgedanken, die durchaus dem Wohl der Opfer gelten sollten. In beachtlicher struktureller Analogie hatte die kommunistische Welterlösungsideologie für ihr Wahrheitsmonopol eine so zutreffende wie einfach drohende Parole: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« Das hatte Wladimir Iljitsch Uljanow dekretiert, den man als Lenin für einen großen Philosophen und für eine Verkörperung des Weltgeistes schlechthin gehalten und 70 Jahre wie einen vergöttlichten Pharao einbalsamiert und der Verehrung für würdig gehalten hatte.
Die Führer der Bewegung verkündeten – geradezu teleologisch abgesichert –, die kommunistische Partei verkörpere die historische Wahrheit. Daraus leiteten sie das Recht auf Befreiung der Menschheit ab, bis zur Durchsetzung des Fortschritts |196| auch mit Gewalt. Sie hingen einer »Utopie der Säuberung« an, die sich nicht nur gegen Feinde, sondern auch gegen eigene Anhänger richtete. Die Opfer stehen zahlenmäßig denen der rassistischen Vernichtungsmaschinerie Hitlerdeutschlands nicht nach, wie wir heute wissen.
Rosa Luxemburgs vielzitiertes Diktum, am linken Rand des Aufsatzes »Zur russischen Revolution« (1917/18) notiert, konnte die DDR 1988 durch öffentlichen Gebrauch in ihren Grundfesten erschüttern. »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.«
Die Mehrheit darf ihre Mehrheit nicht zum Argument gegen die Minderheit machen. Wahre Freiheit erweist sich am Umgang mit Andersdenkenden. Toleranz ist nichts anderes als die Freiheit der Andersdenkenden, seien sie in der Minderheit, seien sie in der Mehrheit. Sie ist keine bloße moralische Forderung; sie wurzelt in der (religiösen) Grundüberzeugung selbst. Der Wettstreit um die Wahrheit wird nicht zuletzt durch deren Wirkung entschieden. Aber es ist eben die Wirkung der je eigenen Grundüberzeugung.
Mahatma Gandhi fasste seine Lebenshaltung in seinen Briefen an den Ashram eindrücklich zusammen; sie entspricht einer inzwischen als universell geltenden Menschheitsmaxime: »Jeder hat von seinem Standpunkt aus recht, doch es ist nicht unmöglich, dass alle zusammen unrecht haben. Daher die Notwendigkeit, Toleranz zu üben, was nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Glauben entspringt, sondern einer reineren und intelligenteren Liebe zu diesem Glauben. Die Toleranz befähigt uns zu geistiger Durchdringung, die vom Fanatismus so weit entfernt ist wie der Nordpol vom Südpol. Die wahre Kenntnis der Religion läßt die Grenzen zwischen einem Glauben und dem anderen einstürzen. Indem wir
in uns
die Toleranz für andere Auffassungen pflegen, vertiefen wir das Verständnis unserer eigenen. … Der Respekt, den wir den anderen Glaubensrichtungen gegenüber empfinden, darf uns nicht daran hindern, ihre |197| Mängel zu sehen. Wir müssen uns auch lebhaft der Mängel unseres eigenen Glaubens bewußt sein und dürfen ihn dennoch deswegen nicht aufgeben, sondern müssen versuchen, über seine Mängel zu triumphieren.«
Nur der Suchende kann von innen her tolerant sein, eben weil er sich der Unvollkommenheit all seines Begreifens und Tuns bewusst bleibt und es wagt, Grenzen zum anderen hin zu überschreiten und solche Überschreitung ebenso vom anderen zu erwarten. Dazu gehört die Bändigung von Feindobsessionen, die sich in Konflikten zwischen Einzelnen und Völkern täglich anstacheln und aufschaukeln lassen. Wer die Zuwanderung von Gastarbeitern und Asylbewerbern z. B. nur nach dem Nutzen für unser Land bewertet, fördert indirekt Nationalismus und rassistisches
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