Lass nur dein Herz entscheiden
ich angenommen habe, du würdest Zeit brauchen, um alles zu bewältigen. Ich war so dumm, dir zu vertrauen, deiner Liebe zu mir, den Gelöbnissen, die wir an unserem Hochzeitstag abgelegt haben. Und jetzt willst du alles wegwerfen, was wir hatten und noch immer haben, weil du zu feige bist, dich von der Vergangenheit zu lösen?“
Ja, ich bin ein Feigling, dachte Miriam unglücklich. Seine Meinung von ihr konnte nicht schlechter sein als diejenige, die sie von sich selbst hatte. Nur änderte es nichts. „Es tut mir leid.“
„Nein. Wenn es dir leidtun würde, hätten wir etwas, womit wir arbeiten können“, stieß Jay hervor. „Du bist dir doch so verdammt sicher, dass du recht hast. Du willst dich allem entziehen und das Wort ‚Liebe‘ aus deinem Gedächtnis tilgen, das ist der eigentliche Grund. Dein Leben lang hast du deine Mutter dafür verachtet, wie sie deinen Vater geliebt hat. Weißt du was? Wenn du nur halb so viel Rückgrat und Mut wie sie hättest, würdest du gut zurechtkommen.“
„Was fällt dir ein? Ich habe meine Mutter niemals verachtet. Sie hat Jahre ihres Lebens damit verschwendet, auf einen Mann zu warten, der es nicht wert war. Damit war ich nicht einverstanden. Was nicht bedeutet, dass ich deshalb weniger von ihr gehalten habe.“
„Aber es hat dir solche Angst eingejagt, dass du deswegen ein Problem hast, stimmt’s?“, sagte Jay, ruhiger jetzt.
Seine Einsicht war zermürbender als seine Wut. „Musst du nicht zum Flughafen?“, fragte Miriam angespannt.
„Das war’s? Du willst nicht länger darüber sprechen, weil ich dir mit der Wahrheit zu nahe gekommen bin.“
Miriam entschied sich, völlig ehrlich zu sein. „Ja, genau. Und ich kann damit nicht umgehen. Ich will es nicht! Ich hätte dich niemals heiraten dürfen, Jay. Mir ist inzwischen klar geworden, dass ich für die Ehe nicht geschaffen bin.“
„Blödsinn.“ Sein Blick war härter geworden. „Ich kenne keine Frau, die sich besser zur Ehefrau und Mutter eignet als du. War dieser Nachmittag etwa nicht der Himmel auf Erden? Wir hatten nicht nur einfach Sex, Miriam. Wir haben uns geliebt. Das ist ein großer Unterschied.“
Sie wappnete sich dafür, stark zu bleiben. „Dieser Nachmittag war der Abschied.“
„Nein, das meinst du nicht ernst.“
„Doch.“
„Abschied?“, fragte Jay leise. „Bist du dessen sicher?“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ die Fingerspitzen noch einen Moment auf der zarten Haut ihrer Wange verweilen.
Mit aller Macht unterdrückte Miriam die ungebetene Reaktion auf seine Berührung. „Ja, ich bin sicher. Ich finde, wir sollten uns nicht mehr treffen, wenn du aus Deutschland zurück bist. Es hat keinen Sinn. Wir würden die Qual nur verlängern.“
„Abgemacht war bis Weihnachten. Oder ist das noch ein Versprechen, das du brechen willst?“, fragte er mit plötzlich gleichmütiger Miene.
„Sei doch nicht so.“
„Das könnte wohl eher ich sagen.“ Hastig trank Jay den Kaffee, den Miriam für ihn zubereitet hatte. „Unten wird ein Taxi warten, wenn du das Hotel verlässt, aber du brauchst nicht zu hetzen“, erklärte er mit ausdrucksloser Stimme. „Auf Wiedersehen, Miriam.“
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss, ging zur Tür und öffnete sie.
„Jay?“
Schon draußen, drehte er sich um und blickte ihr direkt in die tränenfeuchten Augen.
„Wenn du mich wirklich liebst, dann lass es hiermit zu Ende sein“, bat Miriam. „Was für einen Sinn hat es denn, den Abschied ein paar Wochen hinauszuschieben? Ich will alles so haben, wie es war, bevor wir uns wiedergesehen haben.“
Jay holte tief Atem. „Dann verlangst du etwas Unmögliches“, antwortete er schlicht.
Und schloss die Tür.
9. KAPITEL
Eine halbe Stunde später verließ Miriam das Hotel. Der Schnee, der so hübsch weihnachtlich ausgesehen hatte, als sie in Jays Armen gelegen und aus dem Fenster der Suite geblickt hatte, war draußen im Wind einfach nur scheußlich. Die Flocken stachen ihr wie Nadeln ins Gesicht, und ihr Mantel war weiß, bevor sie das wenige Meter entfernt geparkte Taxi erreicht hatte.
„Wir werden ganz schön was abkriegen“, sagte der Fahrer fröhlich. „Ein Anzeichen der globalen Erwärmung kann ich darin nicht erkennen. Wohin?“
Nachdem sie ihm ihre Adresse genannt hatte, lehnte sich Miriam zurück und hoffte, dass er nicht der gesprächige Typ war. Ihr grauste davor, Konversation machen zu müssen. Aber er wurde anscheinend von den schlechten
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