Lassiter und der Gentleman-Fighter
aber angewidert das Gesicht, denn der hatte sich während seiner Grübelei über der Karte in eine ungenießbare lauwarme Brühe verwandelt.
»Versteh mich bitte nicht falsch, Stanley, aber dein Onkel scheint ein ziemlich seltsames Leben geführt zu haben.« Lassiter verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wie meinst du das?«
»Für meinen Geschmack gibt es da einfach zu viele Ungereimtheiten.« Seine Stirn legte sich in Falten. »Und ich spreche da nicht nur von dieser geheimnisvollen Karte oder den Umständen, wie deine Verwandten ums Leben gekommen sind.«
»Von was denn noch?«
»Zum Beispiel von den Säcken voller Getreide, die er in der Scheune auf dem Heuboden gelagert hat. Kamen die euch nicht merkwürdig vor?«
»Weshalb? Wahrscheinlich hat er sich einfach einen Vorrat angelegt, um seine Tiere gut durch den nächsten Winter zu bringen.«
»Das bezweifele ich«, entgegnete Lassiter voller Überzeugung. »Das ist Gerste. Die wird hauptsächlich als Mastfutter verwendet. Also wird er sie wohl kaum für seine fünf Pferde eingelagert haben. Und für die beiden Kühe ist es einfach zu viel. Ganz davon abgesehen, dass auch noch mehr als genug Heuballen in der Scheune zu finden waren, um die Tiere zu versorgen.«
»Vielleicht wollte er die Gerste als Saatgut verwenden.« Amber zwirbelte sich eine goldene Haarsträhne um den Zeigefinger.
»Das wäre eine Möglichkeit«, gab Lassiter zu. »Allerdings nur, wenn er ein Farmer gewesen wäre«, fügte er dann noch hinzu. »Hast du etwas davon mitbekommen, dass dein Onkel Landwirtschaft betrieben hat?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Webber winkte ab. »Ich habe auf jeden Fall nirgends Werkzeuge und Gerätschaften für Feldarbeit entdeckt. Der wenige Kram, der im Schuppen stand, reichte gerade aus, um den kleinen Garten hinter dem Haus zu bestellen. Einen Acker damit anzulegen, wäre vermutlich so mühsam, wie der Versuch mit einem Löffel einen Tunnel durch einen Berg zu graben.«
»Das ist also das nächste Rätsel, das dir dein Onkel hinterlassen hat.« Der Anflug eines Grinsens huschte über Lassiters Lippen. »Was auch immer dahinter stecken mag, er hat auf alle Fälle dafür gesorgt, dass man ihn nicht so schnell vergessen wird. Ich bin jetzt schon gespannt, welche Überraschungen noch auf dich warten.«
»Also, mein Bedarf an Rätselraten ist vorläufig erst einmal gedeckt.« Amber gab ein lautes Seufzen von sich. »Meine Güte, es beginnt ja schon zu dämmern«, erkannte sie mit einem erschrockenen Blick zum Fenster. »Wenn ich nicht schleunigst zurück in die Stadt komme, weiß ich, welche Überraschung mich dort erwartet: ein gewaltiges Donnerwetter. Mein Boss kann es nicht leiden, wenn ich mich verspäte. Ich muss zum Bow & Arrow . Begleitest du mich? Falls die Kerle heute Abend im Saloon auftauchen sollten, hätte ich dich gerne in meiner Nähe.« Sie sah Lassiter mit den großen Augen eines eingeschüchterten Schulmädchens an.
Der war viel zu sehr Gentleman, um die Bitte der jungen Lady abzuschlagen. »Klar, kein Problem. Morgen früh komme ich dann wieder hierher. Denkst du, du kannst inzwischen alleine die Stellung halten?«, wollte er von Webber wissen.
»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf.« Der winkte ab. »Allmählich habe ich kapiert, dass bei euch im Westen ein paar andere Regeln gelten, als die, die ich von der Ostküste gewohnt bin. Falls ich also noch einmal Besuch bekommen sollte, bin ich bestens darauf vorbereitet.« Wie hätte er auch ahnen sollen, dass er damit ein weiteres Mal die Lage völlig falsch einschätzte?
***
»Zum Donnerkeil, bin ich denn nur von Idioten umgeben?«
Nur weil Gorham sich geistesgegenwärtig duckte, raste die Whiskeyflasche dicht über ihn hinweg, anstatt ihn zu treffen. Sie zersprang laut klirrend an der Wand. Ein Hagel aus Scherben und Schnapstropfen prasselte ihm gegen Nacken und Rücken.
»Nun mach mal langsam, Dexter.« Gorham hielt beschwichtigend die Handflächen nach vorn gestreckt, als er sich wieder aufrichtete. »Immerhin ist nicht alles schiefgelaufen. Wir hatten den Kerl beinahe so weit. Wenn der andere Typ nicht urplötzlich auf der Matte gestanden und sich eingemischt hätte, wäre inzwischen wahrscheinlich alles geregelt.«
»Man hat euch wie räudige Köter vom Hof gejagt.« Nixon gab ein gereiztes Schnauben von sich. »Meine Vorstellung von etwas zu regeln sieht da ziemlich anders aus.«
»Der Kerl schießt gut.« Morrison kaute an der Innenseite seiner Wange. »Sehr gut
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