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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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Hände und suchte stöhnend nach Erlösung.
    Endlich packte er gierig ein Buch, das auf dem Nachttisch lag: auf der ersten Seite sein eigenes Porträt.
    Er sah flüchtig hin: Sein Blut gerann vor Schreck. Er sah wieder hin: Die Linien schienen lebendig zu werden, das Gesicht wuchs, bekam Leben, schien sprechen zu wollen …
    Er blätterte ein paar Seiten um und fing an, laut zu lesen. Aber seine Stimme klang ihm dröhnend im Gehirne wieder, und er hatte das Gefühl, dass der Andre im nächsten Moment hervorkriechen werde, bald, bald werde er aus dem Buche herauswachsen und ihn anstarren …
    Das ganze Buch bekam etwas Lebendiges, es schien sich in seinen Händen zu bewegen, er warf es entsetzt weg, aber es bewegte sich, es kroch auf dem Boden umher, der Andre arbeitete sich mühsam hervor, jetzt, jetzt würde er ihn sehen …
    Er sprang rasend aus dem Bett, warf sich mit seinem ganzen Körper über das Buch, packte es dann mit den Händen, würgte es, riss es auseinander, aber er fühlte, dass er hochgehoben wurde, gewaltsam, wie von einer Winde hochgeschraubt …
    Das ist Wahnsinn, das ist Wahnsinn!, schrie es in ihm. Er sprang auf, stierte wie abwesend auf das Buch: Die Vision war vorüber, aber er hatte Angst es aufzuheben.
    Endlich kam er zu sich.
    Er setzte sich hin: Ohnmacht umfing lähmend sein Herz. Er sank auf das Bett und stierte in stumpfer Verzweiflung auf die Decke.
    Da stellte sich plötzlich die Erinnerung an die Orgie, die er soeben durchlebt hatte, wieder ein.
    Ein krankes Verlangen begann ihn zu peitschen, seine Kräfte gaben nach, schon fing er an zurückzusinken, da stand er mit einem Mal ganz mechanisch auf, ohne im Geringsten daran zu denken oder es zu wollen, kleidete sich wie in einem somnambulen Traum an und ging auf die Straße.
    Er sah sich um: Er war wirklich auf der Straße. Es wurde ihm nicht ganz klar, wie er heruntergekommen war. Aber er war glücklich, dass er nun weg, weg war von dem entsetzlichen Zimmer, wo Satan seine Messe feierte.
    Jetzt musste er an Satan glauben, murmelte er tiefsinnig, ja an Satan und an seine raffinierte, grausame Geschlechtsmesse …
    Er setzte sich hin auf die Stufen eines Denkmals, vergrub den Kopf in beide Hände und verfiel in einen fiebrigen Halbschlaf.
    Da schrak er zusammen: Jemand war dicht vor ihm stehen geblieben.
    Er sah auf. In dem Zwielicht des ersten Morgengrauens sah er ein Mädchen, sah nur, dass sie sehr blass war und große weite Augen hatte.
    Sie sahen sich lange an.
    – Ich will mit dir gehen, sagte er und stand auf.
    – Komm! Sie ging schnell voraus.
    – Geh’ nicht so schnell, geh’ langsam. Ich habe eine entsetzliche Angst … Aber du wirst meine Hände halten, dann werd’ ich gleich schlafen … Ich bin gar nicht wie andere Männer, gar nicht, fügte er nach einer Pause hinzu.
    Sie sah ihn verwundert an.
    Er merkte plötzlich, dass er sprach, ohne es zu wissen.
    Sie blieben wieder stehen.
    – Du bist ja noch ein Kind, sagte er erstaunt, ich könnte dich ja auf meine Hände nehmen und tragen. Und du gehst so leicht, dass ich kaum deine Schritte höre …
    – Komm’, komm’: Es ist noch weit.
    – Weit? Aber ich kann ja kaum gehen.
    – Gib’ die Hand. So …
    Er fühlte plötzlich eine neue Kraft.
    – Und du wirst meine Hände halten, fest, sehr fest, selbst im Schlaf, willst du?
    – Ja, ja …
    – Ist es noch weit?
    – Bald, bald …
    Sie gingen stillschweigend.
    – Hier!, sagte sie leise.
    – Hier?
    Sie gingen eine Treppe hinauf.
    – Nun komm’, komm’, sie küsste ihn flüchtig, wir sind beide so entsetzlich müde, so entsetzlich müde, wiederholte sie nachdenklich. Ich werde bei dir schlafen und immer deine Hände halten.
    Er legte sich hin und nahm sie in seine Arme wie ein Kind.
    Sie schlang die Arme um seinen Hals.
    – So fühlst du mich stärker, sagte sie ernst.
    – Wer bist du?, fragte er leise.
    Sie antwortete nicht.
    Er schlief sofort ein.
    * * *

    Sie saßen auf der Veranda eines Restaurants.
    Es war später Nachmittag. Die Häuser warfen schwere, satte Schatten über die breite Straße. Das dichte Laub der Bäume war gesprenkelt mit purpurnen Flecken. Weiter ab ein Baum, dessen Blätter schon ganz gelb waren, und abwärts die Straße entlang flirrte unruhig eine ganze Farbenskala von fiebrigem Purpur bis zum welken Weißgelb hinab: Er bekam ein plötzliches Interesse für die Tausende von Farbennuancen …
    – Nun, warum sprichst du denn kein Wort? Sollen wir den ganzen Nachmittag so stumm

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