Last days on Earth: Thriller (German Edition)
»Direktor Meyring hätte jetzt Zeit. Der rechte Aufzug bringt Sie direkt ins Archiv.«
Dr. Meyring entpuppte sich als ein kleines, nervöses Männchen mit schütterem grauem Haar. Seine runden Augen hinter den Brillengläsern gaben ihm das Aussehen eines erschreckten Waldkauzes. Im scharfen Gegensatz dazu stand allerdings die befehlsgewohnte, sonore Stimme, mit der er sie begrüßte und ihnen einen Platz anbot.
Raoul sah, wie Meyring die Magistra taxierte, als Karla ihre Jacke über die Stuhllehne hängte: ihre langen Beine hochfuhr, eine Weile auf ihrem überaus ansehnlichen Hinterteil verweilte, sich dann bemühte, nicht allzu offensichtlich auf ihre Brüste zu starren, um endlich mit Erleichterung in der Miene seinen Eulenblick auf ihr Kinn zu fixieren. »Was kann ich für Sie tun, junge Frau?«, fragte er, Raoul vollkommen ignorierend.
Raoul sah, wie Karlas Miene einfror. Die Anrede schien ihr ebenso wenig zu schmecken wie die vorhergegangene Musterung. Sie zog die Brauen zusammen und fischte ihr abgegriffenes Notizbuch heraus. »Dr. Meyrink«, begann sie.
»Meyring. Mit weichem ›g‹«, korrigierte er sie. »Weder verwandt noch verschwägert mit gleichlautendem Autor.«
Sie blinzelte unwillig. »Kenne ich nicht«, sagte sie. »Herr Dr. Meyring, mein Kollege und ich sind hier, um Sie noch einmal wegen des Bücherdiebstahls zu vernehmen.« Sie zögerte einen winzigen Moment und sprach dann weiter: »Und natürlich wegen des Mordfalls.«
Raoul hielt den Atem an.
Dr. Meyring erwiderte nichts. Er stülpte die Lippen vor, schmatzte, als würde er einen Schluck Wein verkosten, und schüttelte dann den Kopf. »Ich bin ein wenig befremdet darüber, dass die Ermittlungsbehörden sich bis heute Zeit gelassen haben, jemanden vorbeizuschicken«, sagte er in pikiertem Ton. »Das Ansehen und der untadelige Ruf der Staatlichen Bibliothek stehen und fallen mit ihrem Bestand an bibliophilen Kostbarkeiten und ebensolchen auch aus wissenschaftlicher Sicht unersetzlichen Büchern wie denen, die höchst bedauerlicherweise auch und nicht zuletzt durch die Unfähigkeit der ermittelnden Behör…«
»Verzeihen Sie«, unterbrach Raoul ihn. »Es muss doch ein Team der Spurensicherung hier gewesen sein.«
Der kleine Mann sah ihn fragend an. »Ja? Und?«
»Ihre Aussage und die Ihrer Kollegen sind also aufgenommen worden«, sagte Raoul. Der Mann fing an, ihm ganz gewaltig auf die Nerven zu gehen.
Dr. Meyring ließ seinen Blick von ihm abgleiten und kehrte mit leicht gerümpfter Nase zur intensiven Betrachtung von Karlas Kinn zurück. »Ich habe selbstverständlich alles, was ich wusste, zu Protokoll gegeben. Ihre Leute haben eine erhebliche Unruhe hier hereingebracht und alles auf den Kopf gestellt.« Er schniefte ungehalten. »Und wozu das Ganze? Weder haben Sie uns unser Eigentum wiederbeschafft, noch hat sich jemals wieder ein Magister bei uns gemeldet. Sie sind die ersten!« Anklagend reckte er den Zeigefinger.
»Herr Dr. Meyring«, sagte Karla geduldig, »nun sind wir ja hier. Unser Bestreben ist es, dieses Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Wenn Sie so freundlich wären, uns zu diesem Zweck noch einige vertiefende Auskünfte zu erteilen?«
»Bitte«, sagte Meyring. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände über dem Bauch. »Stellen Sie Ihre Fragen.«
Karla räusperte sich. Raoul konnte förmlich riechen, was ihr durch den Kopf ging. Würde sie sich der Meinung des Obermagisters anschließen? Oder würde sie ihren eigenen Kopf benutzen und es wagen, die delikate Frage ein zweites Mal zu stellen? An dieser einen Frage würde sich sein künftiges Verhalten ihr gegenüber ausrichten. Würden sie in Zukunft als Kollegen freundlich, aber distanziert miteinander umgehen? Oder würde sich vielleicht doch mehr ergeben?
Freundschaft? Mit einer weißen Hexe? Er schüttelte den Kopf. Karla würde kaum interessiert sein, ihre Haltung dem Schwarzen Zweig gegenüber war eindeutig. Wahrscheinlich könnte sie sich eher mit einer Kakerlake anfreunden oder mit einem Vampir einlassen, ehe sie es auch nur in Erwägung zöge, einem Dunkelmagier ihr Vertrauen zu schenken.
Karla legte ihre Hand flach auf das aufgeschlagene Notizbuch. »Fangen wir mit dem unangenehmsten Teil an«, sagte sie. »Wer hat den Toten entdeckt?«
Raoul schloss kurz die Augen. Bestanden, Magistra van Zomeren. Willkommen in meinem kleinen, aber exklusiven Freundeskreis.
»Ah«, sagte Meyring. »Das mag für Sie das wichtigere Thema
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