Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
Wassers stand und wie ein vertäutes Flußschiff wirkte. Der Sage nach hatten die eigenwilligen Bürger das Rathaus im Fluß der Herrschaft des Bischofs regelrecht abgetrotzt. So etwas gefiel Dr. Laubmann.
Er wußte einiges über die Geschichte Bambergs; sie lag für ihn wie ein alter Kupferstich über der sinnlich wahrnehmbaren Realität. Des öfteren las er in einem auf über zehn Bände angelegten Denkmalinventar, worin nicht nur jedes bestehende historische Gebäude ausgiebig beschrieben wurde, sondern auch diejenigen Bauwerke ihren Platz zurückbekamen, die verschwunden oder «abgegangen» waren, wie der entsprechende Fachausdruck lautete. Philipp hatte seit jeher viel Zeit am Fuße der Bergstadt, zwischen Domplatz und Altem Rathaus, verbracht; denn hier lagen die Häuser seiner Verwandten, in denen er sich als Kind und Jugendlicher gerne aufgehalten hatte. Vor allem das Wollgeschäft, das seine Verwandtschaft mütterlicherseits besaß, war einer der frühesten Aufenthaltsorte Philipps gewesen. Derzeit wurde es, nicht ohne eine gewisse Exklusivität, von seiner gleichaltrigen Cousine Irene betrieben, zu der er eine vertrauensvolle Zuneigung empfand. Philipp war ihr geschwisterlich zugetan, ohne jedoch eine erotische Anziehung gänzlich leugnen und ohne die Huldigung seiner Männlichkeit, die von der Cousine ausging, zurückweisen zu können.
Irene Laubmann nahm das alles ziemlich locker und scheute keine Hautkontakte, so daß für Philipp bei jedem Zusammentreffen das Damoklesschwert des Unerlaubten über der Situation schwebte. Auch in moralischen Fragen verhielt sich Irene lockerer und war insofern ein glatter Gegensatz zu ihrem Cousin Philipp. Davon ging er zumindest aus. So hatte sie sich seinerzeit recht schnell scheiden lassen – zu schnell und unüberlegt, fand Laubmann. Ihre innig geliebte Tochter Johanna stammte nicht aus der gescheiterten Ehe, sondern aus einer früheren unehelichen Beziehung. Johanna schlug mit ihren schwarzen Haaren ein wenig aus der Laubmannschen Art. Diese hatte sie von ihrem leiblichen Vater, über den sie nicht viel wußte, weil es nicht viel zu wissen gab. Darin erging es ihr nicht anders als ihrer Mutter. Auch deren geschiedener Mann hatte zu Johanna keine besondere Nähe entwickeln können. Insofern vermißte sie beide Väter nicht zu sehr. Die Vierzehnjährige, die während der Schulzeit in einem nichtkirchlichen Internat lebte, verehrte statt dessen ihren «Onkel Philipp» besonders und war immer gespannt auf die Geschichten, die er erzählte, vor allem auf die phantastischen und auf die gruseligen. Das entsprach schon mehr der Laubmannschen Art.
Beim Wollgeschäft der Cousine eingetroffen, hatte Philipp alle Jugenderinnerungen abgeschüttelt und betrat den Laden, ganz in die Gedanken an seinen Plan versunken. «Fipps!» rief da eine Stimme aus den Tiefen des Ladens heraus, und Philipp Laubmann wußte: Das konnte nur seine Mutter sein. Und natürlich war ihm dieser Spitzname aus seinen Kindertagen – als ein Anklang an Wilhelm Buschs «Fipps, der Affe» – höchst unangenehm.
«Laß dich mal begrüßen, mein Junge!» Ohne weitere Umschweife kam die Mutter direkt auf ihren Sohn zu und gab ihm ein kleines Küßchen auf die Wange. Anschließend wandte sie sich gleich wieder dem Verkaufstisch zu, wo Wolle, Zeitschriften und Stoffe bereitlagen.
Als wollte sie es der Mutter gleichtun, kam auch Irene herbei, ergriff die Hand ihres Cousins, sah ihm recht tief in die Augen und drückte ihm unversehens ebenfalls einen recht warmen, weichen Kuß auf die Wange. «Grüß dich, Philipp», sagte sie und betrachtete ihn genüßlich.
«Hallo, Irene», murmelte Laubmann, nun vollends verunsichert; es war ihm schon wieder viel zu heiß, die ganze Wolle, die beiden Frauen, und überhaupt – nur das entfaltete Taschentuch konnte da abhelfen.
Die Mutter, Rose Laubmann, war inzwischen vollauf mit den Stoffen auf der Verkaufsvitrine beschäftigt. Philipp blickte noch einmal zu ihr hinüber, aus seinen alles ergründen wollenden Augenwinkeln. So sah er sie dastehen: etwas klein geworden, auch leicht rundlich, aber nicht hinderlich füllig für ihre damenhaft-gemessenen Bewegungen. Ihr feines, schwarzes Kostüm, die weißen, hochgesteckten Haare und die fast gleichfarbige Bluse gaben ihr etwas Feierliches, das jedoch nicht aufdringlich wirkte. Das silberne Kreuz auf ihrer Bluse deutete ihre zunehmende Hinwendung zum Kirchlichen an. Sie hätte mit ihren 73 Jahren jederzeit in das
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