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Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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betrachtete Mr Bosu das Fenster im ersten Stock. Noch immer regte sich nichts. Aber kein Problem. Er konnte warten.
    Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ sein Gesicht von der Sonne bescheinen. Dann stieß er einen langen Seufzer aus, der sich kaum von dem des Welpen unterschied, und kraulte Trickster die Ohren.
    Der Welpe wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Ein Mann und sein Hund, dachte Mr Bosu.
    Ja, nur ein Mann, sein Hund und seine Auftragsliste.

23
     
    Bobby ging joggen. Es dämmerte. Der sonnige Herbstnachmittag neigte sich seinem Ende zu, und ein dunkler kalter Abend drohte. Als er zur Tür hinauslief, stellte er fest, dass er ganz automatisch nach seiner gelben Laufjacke griff, was ihn mit einer unerklärlichen Erleichterung erfüllte. Trotz allem, was er hatte erdulden müssen, versuchte sein Unbewusstes noch nicht, ihm den Garaus zu machen. Er überlegte, ob er Dr. Lane anrufen sollte, um ihr die gute Nachricht zu melden.
    Draußen auf der Straße lief er erst einen langen Häuserblock und dann den nächsten entlang. Die Straßen waren still, die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, um sich auf die nächste Arbeitswoche vorzubereiten. Hin und wieder sauste ein einsames Auto vorbei, beleuchtete ihn kurz und war im nächsten Moment wieder verschwunden. Auf Castle Island angekommen, rannte Bobby am Ufer entlang in die Dunkelheit.
    Gerne hätte er James Gagnon für seine augenblickliche Stimmung verantwortlich gemacht. Oder Catherine Gagnon oder sogar den blutrünstigen Staatsanwalt Rick Copley, der so danach gierte, die Zähne in einen leckeren saftigen Mord zu schlagen, dass er bereits zu sabbern begann.
    Aber offen gestanden wusste Bobby genau, woran es lag. Heute Abend dachte er an seine Mutter.
    Inzwischen war es so lange her, dass er nicht mehr wusste, ob das Gesicht, an das er sich erinnerte, tatsächlich ihres war oder nur ein sorgfältig von seiner Phantasie zusammengestelltes Bild. Braune Augen, dunkles Haar, das sich um ein blasses Gesicht lockte, der Duft des Parfüms White Shoulders. Er glaubte, sie vor sich zu sehen, wie sie in die Knie ging und eindringlich zu ihm sagte: »Ich liebe dich, Bobby.« Aber vielleicht war auch das nur ein Traumbild. Möglicherweise hatte sie ihn nur davor gewarnt, den Finger in die Steckdose zu stecken oder mit Waffen zu spielen.
    Er wusste es wirklich nicht. Als sie verschwunden war, war er sechs gewesen. Alt genug, um darunter zu leiden, aber zu jung, um es zu verstehen. Eure Mutter ist weg und kommt nicht mehr zurück. Das hatte sein Vater eines Morgens beim Frühstück verkündet. Bobby und George hatten die zuckrigen Apple Jacks in sich hineingeschaufelt, die ihre Mutter sich immer zu kaufen weigerte, und als Kind hatte Bobby zuerst einen Gedanken gehabt: Spitze, jeden Tag Apple Jacks. Sein Vater schien nicht sehr aufgebracht. George nickte nur ernst. Also hatte Bobby gute Miene zum bösen Spiel gemacht.
    Später hatte er nachts oft wach im Bett gelegen, und ein bleischweres Gewicht hatte sich auf seiner Brust aufgetürmt, das auch morgens beim Aufwachen noch da gewesen war. Und dann kam die Nacht, in der er gehört hatte, wie George ihren Vater anschrie, und an deren Ende eine Fahrt in die Notaufnahme stand.
    Danach war der Name seiner Mutter im Haus nie wieder gefallen.
    Lange hatte Bobby seinen Vater gehasst und ihm, so wie George, die Schuld an allem gegeben. Seinen Vater, der zu wenig sprach und zu viel trank. Seinen Vater, der nicht zögerte, die Fäuste zu gebrauchen.
    Gleich nach seinem achtzehnten Geburtstag hatte George sich in einen anderen Bundesstaat geflüchtet, um nie wieder zurückzukommen. Vielleicht war er ja nach ihrer Mutter geraten. Bobby fragte ihn nie danach. Bobby war da anders. Mit der Zeit veränderten sich die Dinge. Sein Vater veränderte sich. Bobby veränderte sich. Und dasselbe galt auch für Bobbys Bild von seiner Mutter. Inzwischen dachte er immer weniger daran, dass sie gute Gründe gehabt haben mochte, zu gehen, sondern fragte sich zunehmend öfter, warum sie nie versucht hatte, sich bei ihnen zu melden. Vermisste sie ihre beiden Söhne denn gar nicht? Empfand sie denn überhaupt keinen Schmerz oder wenigstens ein bisschen Leere, weil sie ihre Kinder nicht mehr lieben konnte?
    Bobby bekam Seitenstechen, das rasch stärker wurde, als er schmerzhaft nach Luft rang. Trotzdem beschleunigte er seinen Schritt und rannte weiter, da alles besser war als allein herumzustehen und solchen Gedanken

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