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Laufend loslassen

Laufend loslassen

Titel: Laufend loslassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Mall
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Außer den Befehlen kein Laut. Das Ganze mit fast religiösem Ernst. Kaum ist das Ritual vorbei, verwandeln sich die Marionetten wieder in wirkliche Menschen, unterhalten sich freundlich mit den Leuten und untereinander.
    Ich ziehe los, andere Pilger auch. Bardigues ist bald erreicht und schon um zwei Uhr bin ich in St. Antoine, genannt nach dem heiligen Antonius, dem Eremiten aus dem 4. Jahrhundert. Das Kirchenportal hat mozarabischen Einfluss, die Innenbemalung erinnert mich an die kleinen Kirchen in Norwegen. Weiter geht es durch eine fruchtbare Landschaft, die Getreideernte ist zum Teil schon abgeschlossen, zum Teil in Gang. Es ist sonnig und warm. Flamarens beeindruckt mit einer Kirchenruine. Der Bürgermeister, so heißt es auf einer Informationstafel, würde sie gerne wieder aufbauen und bittet um Spenden für die enormen Kosten. Eine nette Frau in der Nähe fragt mich, ob ich Wasser brauche. Ich bin aber noch gut versorgt. Wegen des schönen Wetters und weil es vor Miradoux einen kleinen Campingplatz gibt, mache ich früher Schluss und wasche mal gründlich Socken, T-Shirt, Jeanshemd und auch mein Nacht-T-Shirt und hoffe, dass ich morgen alles trocken einpacken kann. So ist um halb sechs Schluss für heute, ungewohnt früh für mich. Fast schon das Gefühl von Ruhetag.
     

Freitag, 6. Juli
    Nachdem ich aufgewacht bin, gilt mein erster Blick der Wäsche von gestern. Sie ist trocken! Herrlich, keine feuchten Wäschestücke am Rucksack! Ich packe langsam ein, um halb zehn ist Aufbruch. Nach eineinhalb Kilometern ist Miradoux erreicht. Dort das übliche Ritual: Stempel holen, Kirche anschauen — wieder einmal eine Jakobusstatue —, einkaufen, zweites Frühstück. Um halb elf geht es weiter.
    Ein sonniger, klarer Tag mit freiem Blick. Ganz fern am Horizont sind erstmals die Berge der Pyrenäen zu sehen mit den teilweise schneebedeckten Spitzen. Ich spüre so etwas wie eine Sehnsucht. Dahinter, weit, weit entfernt liegt Santiago.
    Felder, eine Burgruine. Der Chemin St. Jacques scheint neu angelegt, um die Straße zu vermeiden. Hunderte von frisch gepflanzten Büschen und Bäumen am Rande, wenn sie groß sind, wird es ein schattiger Weg werden. Bald ist Castet-Arrouy erreicht, ein hübscher Flecken mit einem kleinen Rastplatz vor der Kirche. Zwei Pilgerpaare kommen, während ich Rast mache.
     
    Es könnte ein herrlicher Tag werden, wenn die Zahnschmerzen nicht wären. Immerhin habe ich ein neues Gegenmittel gefunden. Wenn ich den Mund ständig anfeuchte, ist der Schmerz vorübergehend fast weg. Also trinke ich ständig fingerhutweise aus der Wasserflasche. Wer weiß, wie lange das so weitergeht. Auch auf diese Weise komme ich voran. Während des Laufens sinne ich über die Bedeutung und Wirkung aller Schmerzen auf dem bisherigen Weg nach. Einerseits wird mir klar, dass sie meine Aufmerksamkeit zu meiner Körperlichkeit lenken, den achtsamen Umgang mit mir selbst einfordern. Andererseits merke ich, dass sie meinen Willen, meine Entschlossenheit, vorwärtszukommen, nicht wirklich beeinträchtigen. Sie bremsen mich zwar, aber aufhalten können sie mich nicht. Sie werden zu einer normalen Begleiterscheinung des Weges, genau wie Müdigkeit, Erschöpfung, Hunger, Hitze, Regen, Steigungen und Abstiege. So wie alle diese Umstände kommen sie und gehen auch wieder.
    Nichts Äußerliches und auch nichts auf der Ebene der bedingten Emotionen hat Dauer und Beständigkeit, alles ist im steten Wandel auf dem Pilgerweg. Ich spüre auch, wie viel ich eigentlich aushalten kann. Am meisten staune ich darüber, dass die Schmerzen die innere Freude, die ich in mir mehr und mehr wachsen spüre, nicht wegwischen können. Immer mehr kann ich die Vorstellung aufgeben, dass das Leben pflegeleicht und angenehm sein muss, um im Herzen froh zu werden.
     
    Entlang geht es an Feldern, kleinen Bachläufen mit Baumreihen, zwischen Hecken, vorbei an Sonnenblumen, manche Felder in voller Blüte, andere noch grün. Gegen vier Uhr ist der Ortsrand von Lectoure erreicht, die Wasserflasche fast leer. Am Friedhof mache ich Rast, esse fast eine ganze Tafel Schokolade und merke, dass ich doch ordentlich müde bin, obgleich ich nur knapp 17 Kilometer gelaufen bin. Aber die Sonne tut ihre Wirkung, es ist nach der Hitze von St. Chamond der erste wirkliche Sommertag. Also beschließe ich, erst einmal zur Kathedrale zu gehen, wo freitags ab 16 Uhr ein Pilgerempfang sein soll, und dann weiterzusehen. Für einen Ort mit 4000 Einwohnern ist die Kathedrale

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