Laufend loslassen
gewaltig und einem Bischofssitz würdig. Tatsächlich war der Ort bis zur Französischen Revolution Bischofssitz gewesen. Am Eingang der Kirche finde ich einige Damen und Herren, die mich als den ersten Pilger des heutigen Tages empfangen. Sie fragen nach dem Woher und Wohin, bieten Getränke und Plätzchen an und sind aufgeschlossen und herzlich. Bald kommen weitere Pilger, darunter Francois, den ich zuletzt bei Pech Merle gesehen habe.
Als das Empfangskomitee hört, dass ich im Zelt schlafen will, erklären sie, dass der Campingplatz drei Kilometer abseits des Weges läge. Madame Mariethèrese schlägt mir vor, doch in ihrem Garten mein Zelt aufzubauen. So verbringe ich mit ihr, ihrem Mann Roger und Jean, einem Freund der beiden, der auch beim Pilgerempfang engagiert war, einen wunderbaren Abend auf der Gartenterrasse mit einem köstlichen Menü. Wir unterhalten uns über das Pilgern und Wandern, über Bamberg, die Normandie, wo die Gastgeber ursprünglich herkommen, über die deutsch-französische Freundschaft und den Krieg, den Jean, der älteste meiner Gastgeber, noch als Junge in Le Havre erlebt hat. Eine seiner Töchter ist jetzt in Deutschland verheiratet und lebt im Ruhrgebiet.
Gegen zehn verabschiede ich mich mit dem Gefühl, dass mir der Jakobsweg heute wieder eine wichtige Lektion zum Thema Gastfreundschaft gegeben hat. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Zahnschmerzen fast völlig verschwunden sind. Ich verbringe eine ruhige Nacht im Garten.
Samstag, 7. Juli
Sieben nach sieben, wie es sich für einen Tag mit so vielen Siebenern gehört, wache ich auf. Das Frühstück ist schon vorbereitet, Marietherese und Jean frühstücken mit und wir unterhalten uns so gut, dass es halb zehn wird, bis ich loskomme. Um zehn habe ich schließlich den Ortsrand von Lectoure erreicht und werde nach dem Überschreiten des Flüsschens Gers von einem Schnakenschwarm überfallen. Alles Zappeln und der schnelle Griff zur Minzölflasche helfen nicht viel und ich bekomme einige Stiche ab. Erst nach dem Auwäldchen, noch immer begleitet von einer Wolke von Schnaken, hole ich das Nelkenöl aus dem Rucksack, das ich auf Haut und Kleidung auftrage und dann den ganzen Tag durchdringend danach rieche. Immerhin bekomme ich die Plagegeister los. Wieder führt der Weg durch weite Felder, angenehm zu laufen. Die Hitze, die zuerst heftig ist, schwächt sich später durch ein paar Wolken und leichten Wind etwas ab. Um zwölf erreiche ich einen Picknicktisch etwa einen Kilometer vor Marsolan, wo ich erst einmal Pause mache und die Eindrücke von gestern Revue passieren lasse. Nach einer Dreiviertelstunde geht es weiter. Der Wind hat ein wenig zugelegt und bringt angenehme Abkühlung.
Marsolan, ein hübscher kleiner Weiler mit einer alten Kirche und einer Quelle, die sich unter Felsen sammelt, ist eine kleine Pause wert. Dann geht es weiter durch eine Landschaft, die mich stark an die Gegend um das Zeubelrieder Moor herum in der Nähe von Würzburg erinnert. Weite Felder, eine leicht gewellte Landschaftsstruktur, kleine Gehölze und baumgesäumte Wasserläufe.
Diese Landschaft mag ich sehr, sie ist für mich mit Trost und Wohlbefinden verknüpft und auch mit Hesses „Narziss und Goldmund.“. Dieses Buch hat mich immer sehr angesprochen, ich habe es zum ersten Mal in der Landschaft im Maindreieck gelesen.
Ich kenne beide Personen in mir. Hier auf der Wanderung kommt der Goldmund zum Leben, der wohl verkümmert war. Allerdings erschien es mir auf den ersten Tagen so, als sei es der alternde Goldmund, der ein zweites Mal aufbricht. In der Zwischenzeit, vor allem wenn es so gut läuft wie heute, spüre ich die Kraft des frühen Goldmund. In meinem Leben habe ich es wohl zu oft mit dem Narziss versucht, mit der Strenge sich selbst gegenüber, mit Übungen unterschiedlichster Art und habe es dabei zu nicht viel gebracht. Den Goldmund zu leben habe ich mich aber auch nicht getraut. Es ist merkwürdig für mich mit diesen beiden Gestalten. Sie können in mir nicht in Frieden Zusammenleben. Ich weiß ja nicht, vielleicht empfinden viele Menschen diesen Konflikt. Für mich aber wird es immer wichtiger, einen Weg zu finden.
Während ich so laufe und mich glücklich fühle, fällt mir ein, dass der erste wortähnliche Laut, den Martina als Baby von sich gab, wenn es ihr offensichtlich gut ging und sie sich wohlfühlte, „Öhröh.“ war, was man natürlich auch so schreiben könnte: „Heureux.“.
So laufe ich weiter auf
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