Laufend loslassen
Chance. Leider, wie ich später feststelle. Er liegt schön am Ufer des Oleron direkt vor der mächtigen Stadtmauer, einer Befestigung aus dem 16. Jahrhundert. Der Gite hat dagegen nur einen Stern verdient, eng, in einem alten Haus ohne Wärmedämmung und zudem nicht sehr sauber. Während ich auf dem zentralen Platz ein Glas Wein trinke, merke ich, wie erschöpft ich nach den 31 Kilometern bin. Der Ort wäre es wert gewesen, ihn etwas munterer und weniger ausgelaugt aufzunehmen.
Sonntag, 15. Juli
Um halb sieben wache ich auf, weil meine Zimmergenossen, die ich gestern nur noch schlafend vorgefunden habe, schon aktiv sind. Draußen ist wolkenloser Himmel. Das verspricht einen heißen Tag, also auf und los. Noch ein Ausblick vom Mauerring der Stadt aus und dann hinaus durch das Tor. Halb neun ist es inzwischen, noch einigermaßen kühl. Am Stadtrand laufen vor mir zwei Pilger, ein junges Pärchen aus Kanada, wie ich später feststellen werde. Es sind Valerie und Julien. Die beiden und meine zwei Zimmergenossen, mit denen ich noch keine Bekanntschaft gemacht habe, sehe ich den ganzen Tag, immer ein paar hundert Meter vor mir, dann ziehe ich, während sie Rast machen, vorbei, später sie wieder an mir. Mit Ausnahme der ersten Dreiviertelstunde bis Castelnau bewegt sich der Weg viel durch Wald oder am beschatteten Waldrand, sehr angenehm bei der sich entfaltenden Hitze. Erst in der vierten Stunde geht es an freien Wiesen und Weiden vorbei in der prallen Sonne, aber mit bisweilen schönem Blick auf die Pyrenäen. Ein Schmerz am Fuß zwingt mich zu einer Rast. Ich habe gerade das Flüsschen Le Saison überquert und damit das Baskenland erreicht. Eine aufgeriebene Stelle an der Ferse ist dabei, eine Blase zu entwickeln, erstmals seit 1000 Kilometern. Gleich ein Pflaster drauf, unverschwitzte Socken und dann hoffe ich, dass ich das Schlimmste noch abwenden kann, was auch gelingt. Noch einmal Wald, ein toller Ausblick auf die Berge und schon ist Aroue erreicht. Dort liegt der Gite gleich am Ortseingang, ist gut eingerichtet. Ich ziehe in eines der Zimmer ein, die Betten sind mit Trennwänden voneinander abgesondert, sodass sogar etwas wie Privatsphäre entsteht. Es folgt das übliche Ritual — duschen, Kleider waschen, essen. Wie herrlich doch eine Dusche ist, wenn man komplett verschwitzt ankommt!
Ein bisschen kommt Abschiedsstimmung auf. St. Jean Pied de Port ist in zwei Tagen erreicht, dann kommt schon Spanien und damit ein völlig neuer Abschnitt. So wie es nach den Erfahrungen der letzten Tage aussieht, wird die Hitze eine große Herausforderung sein. Wahrscheinlich werde ich doch unter die Frühaufsteher gehen müssen. Ich merke jedenfalls heute, wie angenehm es ist, die Tagesetappe schon um 14 Uhr geschafft zu haben, dann im Schatten zu sitzen, Tee oder auch ein Bier zu trinken und viel Zeit zu haben.
Montag, 16. Juli
Es ist noch nicht ganz sechs Uhr, da wache ich auf. Mein Zimmergenosse Nicolas aus Quebec in Kanada ist schon aktiv, andere im Gite auch. Notgedrungen stehe ich auf und beschließe, mir ein ausführliches Frühstück zu gönnen. Ich spüre, dass darin etwas wie Protesthaltung mitklingt. Ich will meinen Rhythmus leben und nicht den anderer Leute. Ich koche Kaffee, packe derweil einen Teil meiner Sachen zusammen. Der Bäcker hat tatsächlich frisches Brot gebracht, das man am Vorabend bestellen konnte. Ich lasse es mir schmecken. Kurz vor Valerie und Julien, die, wie ich jetzt erfahre, ebenfalls aus Quebec sind, starte ich in den Tag. Es ist drei viertel acht, neuer Rekord. Die Hitze des Vortags ist gewichen, Bewölkung bedeckt den Himmel.
Ein angenehmer Wandertag. Bald ist Olhaiby erreicht mit seiner romanischen Kapelle. Dort treffen sich alle. Alfred aus Bamberg und Carola, ein Männerpaar aus Quebec, meine Zimmergenossen aus Navarrenx, Jörg, der dort am Abend noch ein Glas Wein mit mir getrunken hatte, und sein Wanderfreund Alois aus der Nähe von Dortmund. Eine nette Frau zeigt uns die Kapelle und gibt uns einen Stempel in den Pilgerpass. Alle bleiben auch später in Sichtweite.
Ich gehe eine Zeit lang mit Alfred und unterhalte mich mit ihm. Dabei erfahre ich, dass Ediths Freund, den sie vier Jahre nach unserer Trennung kennengelernt hat, mit ihm in einer Meditationsgruppe ist. Ich erfahre auch seinen vollen Namen. Da ist es also wieder, mein Thema Trennung und Loslassen. Ganz klar wird mir dabei vor Augen geführt: Ich bin nicht mehr der Mann, auf den hin Edith orientiert ist und es
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