Laufend loslassen
steht an, auch sie in meinem Herzen freizugeben. Auch zu meiner eigenen Befreiung.
Wir tauschen uns aus über Veränderungen, die wir an uns wahrnehmen, jetzt, nach langer Pilgerschaft.
Ähnlich wie ich registriert Alfred, dass in Bezug auf die Eindrücke der Landschaft eine „Eintrübung.“ stattfindet. Man läuft durch die Landschaft, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Sie - oder genauer gesagt ihr Eindruck - wirft nicht mehr so viele Wellen. Überhaupt, während am Anfang die Tage ein Auf und Ab hatten, solche, an denen es gut ging und die Stimmung besonders positiv war, daneben aber auch Tage, die schlecht liefen und an denen die Laune unten war, ist jetzt alles ähnlicher.
Es ist, wie ich sage, „gleichgültiger.“ geworden.
Das ganze Pilgergrüppchen, verteilt über ein paar hundert Meter, steigt zur Stele Gibraltar hinauf, wo die Wege aus Vezelay und Tours einmünden. Wirklich eindrucksvoll ist der Gedenkstein nicht und er ist auch, wie ich in meinem Pilgerführer lese, erst 1964 errichtet worden. Dann geht es steil hinauf zur Chapelle de Soyarza, von wo aus ich den Ausblick auf die Pyrenäen genieße, der noch wunderbarer wäre, gäbe es nicht so viel Dunst. Nach und nach machen alle dort Rast. Anschließend steige ich hinunter nach Haranbeltz. Dessen Kapelle, übrig geblieben von einem Hospiz aus dem 12. Jahrhundert, ist leider verschlossen.
Bei der Rast habe ich gehört, dass der Gite in Ostabat geschlossen sein soll wegen Läusen. Andere sagen, er sei zwar offen, aber es gäbe Flöhe. Das motiviert nicht gerade zu einer Übernachtung. Außerdem ist mir sowieso mehr nach einer Nacht im Freien. Ich finde eine offene Hütte mit Bänken und Tischen. Während ich gerade überlege, ob ich nicht hierbleiben soll, kommen Alfred und Carola. Ihnen gefällt der Unterstand auch, aber sie haben schon ein Quartier bestellt. Ich beschließe zu bleiben, sie stocken meinen Lebensmittelvorrat noch mit Brot, Käse und Marmelade auf. Während ich mich häuslich einrichte, beginnt es zu regnen und später zu schütten. Ich sitze im Trockenen und kann das Prasseln des Regens auf dem Wellblechdach ohne Einschränkungen genießen.
Durch das Grau des Regens hindurch merke ich, wie sich die Abschiedsstimmung verstärkt. Mehr als 1000 Kilometer bin ich jetzt durch Frankreich gelaufen. Morgen noch ein paar und dann kommt Spanien. Ich will noch einiges an Post erledigen und Sachen kaufen, dann wird die Pyrenäenüberquerung kommen und mit dem spanischen Camino eine andere Phase der Pilgerreise.
Um halb zehn gehe ich schlafen und bleibe ungestört, sogar von Schnaken, bis zum nächsten Morgen.
Dienstag, 17. Juli
Um sechs Uhr wache ich auf, leichte Bewölkung, aber sonst verspricht es, ein guter Tag zu werden. Mit den letzten Resten frühstücke ich, dann gehe ich nach Ostabat, das ich gegen halb acht nach einer Viertelstunde erreiche. In dem Moment, wo ich eintreffe, brechen die beiden Quebecer gerade auf. Während ich eine Bäckerei suche, kommen Alfred und Carola aus ihrem Gite auf die Straße. Sie brechen auf, ich rüste mich noch für ein zweites Frühstück aus.
Der Weg Richtung St. Jean Pied de Port verläuft erst lange Zeit in der Nähe der Straße. Immer wieder treffe ich auf Pilger, die ich von früheren Etappen kenne. Es wird wärmer, aber es wird zum Glück nicht richtig heiß. Drei Stunden nach Aufbruch ist das Croix de Galzetabara erreicht, ein eindrucksvolles Steinkreuz aus dem 17. Jahrhundert. Wie an vielen hundert Wegkreuzen davor verweile ich für ein Vaterunser. Der Weg verläuft dann südlich der Straße durch eine abwechslungsreiche, kleingliedrige Landschaft. Im Hintergrund die Hügel der Pyrenäen, die aber die Sicht auf den Hauptkamm nehmen.
Während ich laufe, kommt für mich eine wehmütige Stimmung auf. Ja, der Weg durch Frankreich geht zur Neige. Es ist jene Stimmung, die der ähnelt, wie ich sie schon vom Ende des Aubrac und auch ein wenig von nach Cahors kenne. Das Alte geht zur Neige, das Neue hat noch nicht begonnen. Aber in einem wesentlichen Punkt ist etwas anders: Es ist nicht mehr die Düsterkeit in mir wie nach dem Ende des Aubrac und auch nicht mehr die latente Aggressivität, die ich dort noch erlebt habe. Als ich schließlich St. Jean le Vieux erreiche, ändert sich meine innere Verfassung in eine sanfte Freude. Ich habe das Alte wohl losgelassen.
In St. Jean le Vieux mache ich eine Pause, trinke Kaffee. Dort sehe ich Jean-Marie zum ersten Mal, einen jungen Franzosen, der,
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