Laufend loslassen
Ordnung zu bringen. Ich bin froh, als wir endlich Cacabelos erreichen.
Eine sympathische Frau verwickelt uns in der Hauptstraße in ein Gespräch, erzählt von dem tödlichen Verkehrsunfall eines Pilgers, der sich in der Nähe des Städtchens kürzlich ereignet hat. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
Ich lege mich auf die Steinbänke vor der Kirche bei der Herberge, weil wir noch warten müssen, bis sie öffnet. Dort, das merke ich später am Tag, verliere ich meine Uhr, die aus der Hosentasche rutscht. Es ist eine schöne Solaruhr, an der ich hänge. Mein späteres Suchen bleibt vergeblich. Wieder einmal muss ich loslassen, diesmal auf der materiellen Ebene.
Ein Trost für mich ist, dass mir Verena spontan ihre Armbanduhr leiht, als sie von meinem Missgeschick erfährt.
Um zwölf Uhr macht die Herberge auf, die wie eine Kirchenburg entlang der ringförmigen Mauer um die Kirche angelegt ist. Zweibettzimmer. Kaum sind wir eingezogen, bin ich schon im Bett. Verena bringt mir noch einen Tee. Dann schlafe ich fast sechs Stunden wie ein Stein. Immerhin geht es mir danach wenigstens um so viel besser, dass ich einen Teller Spaghetti vertrage. Aber ich fühle mich noch unwohl. Während ich vorsichtig esse, immer darauf achtend, wie viel ich mir Zutrauen oder zumuten kann, und dem Gespräch meiner beiden Caminofreunde zuhöre, habe ich die Ahnung einer Veränderung in unserer Gemeinschaft. Das Dreieck beginnt sich zu verschieben. Dennis und Verena erscheinen mir näher zusammengerückt, ich bin im früheren Abstand an der dritten Dreiecksspitze. Dafür, dass meine beiden Weggefährten mit meiner Schwäche so rücksichtsvoll umgegangen sind, bin ich sehr dankbar und sage es ihnen auch.
„Das ist doch wohl selbstverständlich gewesen.“, meinen beide. Nachts schwitze ich stark.
Montag, 13. August
Früh, als mich Dennis weckt, erwache ich aus einem turbulenten Traum. Ich kann die Bilder nicht genau erfassen, aber irgendwie hat es etwas mit Angst vor dem völligen Alleinsein zu tun. Jetzt, wo ich seit Hontanas Edith innerlich freigegeben habe, meldet sich, wieder zwölf Tage später, meine Einsamkeit. Ich kann nicht länger an der Illusion der letzten Jahre festhalten, ich hätte noch eine Frau an meiner Seite, die eben nur woanders wohnt. Nein, jetzt stehe ich allein. Hier, auf der Pilgerreise, schützen mich meine Caminofreunde vor diesem schwer erträglichen Gefühl. „Nur diese Nähe nicht verlieren!.“, fleht es in mir.
Noch bin ich nicht voll bei Kräften, aber es geht mir deutlich besser. In der letzten Stunde der Nacht brechen wir auf, erst ein Stück entlang der Straße. Hier irgendwo muss der französische Pilger ums Leben gekommen sein. Dann geht es durch die Weinberge nach Villafranca del Bierzo. Wir halten Rast in der Herberge Ave Fénix, wo wir herzlich empfangen werden, Dennis und Verena eine wirksame Beinbehandlung bekommen und wir alle ein gutes Frühstück. Wir treffen auch Bianca wieder, die Probleme mit dem Bein hat. Die Herberge bietet auch Rucksacktransporte an, die wir aber ablehnen. Die Atmosphäre der Herberge ist von Wärme und Herzlichkeit geprägt. Die Bilder an den Wänden und die Verhaltensweise der Hospitaleros zeigen ihre Verbindung zur Spiritualität. Nach Villafranca del Bierzo nehmen wir den Camino Duro, der mit einem sehr steilen Anstieg beginnt, dafür aber dann mit wunderbaren Ausblicken auf die Berge und in das Tal belohnt, in dem die andere Caminotrasse entlang der Nationalstraße und der Autobahn verläuft. Die Herausforderung, diesen als so schwierig beschriebenen Weg zu meistern, reizt uns alle drei.
Auf dem Höhenweg geraten wir in ein lebhaftes Gespräch über Persönlichkeitstypen und deren Kommunikationsmuster. Wir erzählen einander über persönliche Erkenntnisse und Entwicklungen bei der Beschäftigung mit Schulz von Thuns Modell der Vierohrigkeit des Hörenden und den vier Seiten einer Botschaft, mit Virginia Satirs Beschreibung von vier Arten von Kommunikationsverhalten, mit Fritz Riemanns Buch „Grundformen der Angst.“ und den darin beschriebenen vier Persönlichkeitsstrukturen. Besonders dieses Buch war es, das mir viel geholfen hat, mich persönlich weiterzuentwickeln, meine Strukturen zu erkennen und durchlässiger zu machen. Ich erzähle meinen Caminofreunden eine für mich dabei zentrale Situation. Das Erklärungsmodell des Enneagramms von Richard Rohr mit seinen neun Gesichtern der Seele klingt an, dann auch die „Fünf Sprachen
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