Laufend loslassen
der Liebe.“ von Gary Capman, ein Buch, das meine Weggefährten kennen, ich noch nicht. Mir wird dabei nochmals klar und ich sage es auch: Jede Typisierung ist ein oft hilfreicher Versuch, die Wirklichkeit zu beschreiben und zu erklären, jedoch nicht die Wirklichkeit selbst. Menschliches Verhalten ist letztlich nicht in Schubladen zu sperren. Es bleibt immer ein Rest von Unergründlichkeit und Geheimnis, den wir auch bei uns selbst nur schwer und wahrscheinlich nie ganz durchdringen können. Unser Gespräch macht eine Wendung und geht zu Prägungen, die von der Geburtssituation herrühren.
Während wir weiter durch die lichten Maronenwälder wandern, wandelt sich das Gespräch noch einmal. Dennis stellt einige moralische Dilemmata zur Diskussion, über die wir nachdenken und uns austauschen. „Wie verhältst du dich, wenn du siehst, dass ein Eisenbahnwagen talwärts rollt und du die Fahrtrichtung verändern kannst, indem du eine Weiche verstellst. In einem Fall werden fünf, im anderen Fall wird eine Person überfahren. Greifst du ein und wenn, dann wie?.“, stellt er als Aufgabe. Wir denken nach, wägen ab, begründen einander unsere Entscheidung. Dennis lässt weitere Aufgabenstellungen folgen. Durch das angeregte Gespräch vergeht die Zeit auf dem Weg schnell.
Der Abstieg nach Trabadelo ist steil. Wir kaufen ein paar Dinge ein, dann geht es an der Nebenstraße entlang nach Las Herrerías, wo wir einkehren und auf Hans stoßen, einen 65 Jahre alten Pilger aus Landshut, den wir schon öfter immer wieder kurz gesehen haben. Er hat Fußprobleme und kommt heute nicht so gut vorwärts wie er gerne möchte. Dann kommt noch eine junge Dänin dazu, die erzählt, dass sie viel träumt in den Nächten auf dem Camino. In Reliegos in der Bar ist sie mir zum ersten Mal aufgefallen.
Bald ist Vega de Valcarce erreicht. Wir nehmen die brasilianische Herberge am Anfang des Ortes. Wenig später trifft eine große Gruppe italienischer Fahrradfahrer ein.
Mercedes, eine blonde 18-jährige Kindergärtnerin und ihre Mutter aus Murcia sind schon da. Den beiden sind wir früher schon begegnet. Mercedes hat bei unserem letzten Treffen wohl ein Auge auf einen jungen dunkelhaarigen Mann aus Oberbayern geworfen, mit dem wir in der Herberge waren. „Habt ihr ihn gesehen?.“, fragt sie uns. Wir verneinen. Später bummeln wir durch den Ort, kaufen ein und schauen uns den strohgedeckten Kornspeicher im Zentrum an. Dann, zurück in der Herberge, heißt es warten auf das Abendessen. Für 19 Uhr ist es angekündigt, hungrig sitzen wir herum, bis schließlich um fast halb neun das „typische.“ brasilianische Essen, Reis und Bohnen mit Wurst, dazu Salat, serviert wird.
Was eigentlich gut gemeint ist, nämlich eine namentliche Vorstellung aller Pilger, bei der man auch noch ein Wort über den Jakobsweg loswerden kann, nervt bei etwa 35 Teilnehmern und knurrendem Magen nur. Nachdem der Heißhunger gestillt ist, haben wir einen lustigen Abend.
Dienstag, 14. August
Kurz vor sechs stehen wir auf und bereiten Kaffee und Müsli vor. Die ersten Kilometer bis Ruitelán führen mehr oder weniger an der Straße entlang. Das Tal um uns herum ist grün und erinnert mich mehr an Frankreich als an die bisherigen Etappen in Spanien. Wieder einmal, die Vegetation macht es unübersehbar, ist eine neue Phase der Pilgerreise dabei, zu beginnen.
Es ist kühl und so bleibt es auch den ganzen Tag. Hinter Las Herrerías, schon der zweite Ort, der so heißt, steigt der Weg immer mehr an, zum Schluss ziemlich steil, bis wir La Faba erreichen. An der Pilgerherberge machen wir Rast und beten gemeinsam in der alten Kirche den Pilgersegen, der uns jetzt schon lange auf dem Weg begleitet. Die Herberge wäre auch ein schöner Ort zum Übernachten gewesen. Der kleine Ort, an dessen Rand sie liegt, streckt sich idyllisch auf einem Bergrücken. Als wir weiterziehen, kämpfen sich auch Radpilger den steilen, steinigen Weg hinauf. Nun steigt es ständig, der Blick weitet sich immer mehr auf grüne Hügel und Berge.
In Laguna, dem letzten Ort in Kastilien, machen wir vor einer Bar halt. Durch die offene Tür klingt eine Musik, die so gar nicht zu Spanien zu gehören scheint. „Das klingt ja wie im Film ,Titanic’, das passt ja überhaupt nicht.“, meint Verena. In ihr ist vielleicht gerade eine ganz andere Stimmung. Es ist keltische Musik aus Galicien, mit dieser Sehnsucht und sanften Schwermut in der Melodie, die auch die traditionelle Musik Irlands, Schottlands
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