Laura Leander 01 - Laura und das Geheimniss von Aventerra
Kunstgeschichte«. Genau das hatte Fräulein Bröselsams Misstrauen geweckt.
Die altjüngferliche Bibliothekarin hatte schon Generationen von Ravensteinern überlebt und war mit allen Schlichen und Kniffen vertraut. Im Laufe der Jahre hatte sie ein nahezu untrügliches Gespür dafür entwickelt, wenn einer der Zöglinge etwas im Schilde führte. Sich ein Buch unter den Nagel reißen, ein Video oder eine cd klauen wollte. Oder einfach nur eine Illustration aus einem Buch reißen wollte. Aus einem Kunstband mit Abbildungen von recht freizügigen Frauengestalten zum Beispiel oder aus medizinischen Fachbüchern, die sich mit der menschlichen Sexualität beschäftigten. Diese Bücher erfreuten sich großer Beliebtheit bei den männlichen Ravensteinern, insbesondere bei halbwüchsigen Knaben. Weshalb bei Amalie Bröselsam sämtliche Alarmglocken schrillten, wenn sich ein Junge den entsprechenden Regalen auch nur näherte. Fräulein Bröselsam konnte es förmlich spüren, wenn etwas nicht stimmte. Oder einfach »nicht normal« war, wie sie schlichtweg alles bezeichnete, was nicht ihrer Vorstellungswelt entsprach. Und dass ein dreizehnjähriges Mädchen sich über fünf Minuten vor der »Altbyzantinischen Kunstgeschichte« herumdrückte und die verstaubten Fachbücher so interessiert studierte, als handelte es sich um eines dieser entsetzlich schrillen Teenie-Rock-Pop-Film-und-Fernseh-Magazine, war ganz bestimmt nicht normal.
Da stimmte etwas nicht!
Amalie Bröselsam verdrehte den Hals und blickte zur laut tickenden Uhr an der Wand über ihr: fünf vor fünf. Sie wandte sich wieder Laura zu und räusperte sich geräuschvoll. »Wir schließen in fünf Minuten, mein Fräulein!« Der Vorwurf in der Stimme war nicht zu überhören.
Laura drehte sich rasch um. Sie machte ein Gesicht, als sei sie bei etwas Unrechtem ertappt worden. »Ahm«, sagte sie. »Ich ... Ähm ... Ich weiß.«
Amalie kniff die Augen zusammen. Zweifel lagen in ihrem Blick. »Kann ich dir vielleicht helfen?«, fragte sie, um einen neutralen Tonfall bemüht.
Laura schüttelte schnell den Kopf. Eine Spur zu schnell, wie Amalie Bröselsam fand. »Nein ... ähm ... Das ist nett von Ihnen, aber ich ... ich komm schon alleine zurecht.« Dann kehrte sie der Bibliothekarin wieder den Rücken zu und starrte weiter auf die Buchrücken, als könne sie gar nicht genug davon bekommen.
Fräulein Bröselsams schmaler Schildkrötenmund verformte sich zu einem nach unten zeigenden Bogen, und die tiefen Falten um ihre Augen wurden noch tiefer.
Da trat Kaja Löwenstein an den Ausleihtresen und lenkte die Aufmerksamkeit der Bibliothekarin auf sich: »Entschuldigung, aber wo finde ich denn Bücher über Dinosaurier?«
Fräulein Bröselsam blickte das Mädchen verwundert an. »Hinten in der Ecke - wo denn sonst!«, antwortete sie pikiert.
Kaja schüttelte den Kopf. »Hab ich ja auch gedacht - aber da sind sie nicht!«
Fräulein Bröselsam spitzte die Lippen und sah beleidigt aus. »Aber Kind - das ist unmöglich! Die Ur- und Frühgeschichte befindet sich seit Jahren am selben Platz - die Bücher müssen einfach dort hinten stehen.«
Erneut schüttelte Kaja den Kopf. »Eben nicht! Ich hab extra nachgeschaut!«
»Das ist doch nicht normal!«, stöhnte Amalie Bröselsam.
Mit einem genervten Gesichtsausdruck legte die Bibliothekarin ihren Schmöker zur Seite und setzte die Brille von der Nase. Die Brillenbügel waren an einer silbernen Kette festgemacht, die Amalie um den Hals hing. Als sie sich von ihrem Stuhl erhob und hinter dem Ausleihtresen hervorkam, baumelte die Brille vor Amalie Bröselsams wogendem Busen, der in einer weißen Rüschenbluse steckte. Während Amalies Gestalt mit erhobenem Kinn auf die entfernte Ecke der Bibliothek zu wogte, raschelte ihr grauer Faltenrock, der bis zu den altmodischen Halbschuhen reichte, leise. Kaja zwinkerte Laura verschwörerisch zu, und dann folgte sie der Bibliothekarin, die gleich einer stolzen Fregatte durch den Büchersaal segelte.
Die beiden waren kaum hinter den Regalen verschwunden, da huschte Laura geschwind zu der Stelle an der Wand, an der sie ihren Vater während der Traumreise beobachtet hatte. Sie kniete nieder und nahm den Fußboden näher in Augenschein.
Auf den ersten Blick war nichts Auffälliges zu entdecken. Die hölzernen Bodendielen und die Scheuerleiste sahen aus wie - wie ganz normale Bodendielen und Scheuerleisten eben.
Schnell tastete sie mit der Hand darüber, prüfte, ob sie vielleicht eine lockere
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