Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
Sanft berührte sie das Foto mit den Fingern. Ein angenehmes Gefühl von Wärme prickelte durch ihre Hand und flutete durch den Arm bis ins Innere ihres Körpers. Es war, als wäre sie in der Geborgenheit einer Umarmung gefangen und könne ihre Mutter leibhaftig spüren. Laura wagte weder ihre Hand wegzunehmen, noch den Zauber dieser wohligen Empfindung durch eine Frage zu stören.
Nach einer Weile brach Anna Leander die Stille. »Hör zu, Laura! Vergiss niemals, dass nichts auf dieser Welt ohne besonderen Grund geschieht! Genauso, wie viele Dinge ganz anders aussehen, wenn man erst einmal hinter ihre Oberfläche geblickt hat, erschließt sich uns auch das Verhalten der Menschen nicht beim ersten Anschein. Viele wissen ihre wahren Absichten geschickt zu verbergen, und es dauert deshalb häufig eine ganze Weile, bis man sie durchschaut.«
Laura zog ein gequältes Gesicht. »Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst, Mama?«
»Ich weiß, aber du wirst schon bald verstehen.« Anna Leanders Stimme klang sanft. »Du darfst dich nur nicht entmutigen lassen, was immer auch geschieht. Deine Aufgabe kannst du nämlich nur bewältigen, wenn du fest an das Gelingen glaubst. Wenn du aber zulässt, dass Angst und Zweifel an dir nagen, werden deine Kräfte schwinden und dein Mut wird nachlassen – womit deine Gegner erreicht hätten, wonach sie mit Macht und Heimtücke streben. Sei auf der Hut vor den Dunklen, Laura! Sie führen Böses im Schilde und schrecken vor keiner List zurück. Erinnere dich der Worte des Mönches, und suche nach dem Siegel der Sieben Monde, denn es wird dir Stärke verleihen. Der Blinde hat dir nicht zu viel versprochen. Es stellt in der Tat die größte Kraft unter dem Himmel dar, vorausgesetzt, man erkennt das ihm innewohnende Geheimnis.«
Anna Leander schenkte ihrer Tochter ein letztes Lächeln zum Abschied. »Pass auf dich auf, mein Kind«, flüsterte sie und hob die Hand, um Laura zuzuwinken. »Und vergiss nie, dass ich dich liebe.«
»Ich dich auch, Mama. Ich dich auch.«
Anna ließ die Hand sinken, ihre Gesichtszüge erstarrten, und nur einen Herzschlag später blickte sie Laura wieder ernst entgegen.
Wie gebannt schaute Laura mit feuchten Augen auf das Foto ihrer Mutter, unfähig, den Blick von ihr zu lösen. Als Laura das Album endlich wieder ins Regal stellte, fühlte sie mit einem Male eine seltsame Kraft in sich aufsteigen. Es war ihr, als habe selbst der Tod diesem übermächtigen Gefühl, das sie mit ihrer Mutter verband, nicht das Geringste anhaben können.
Laura war noch gar nicht in Sichtweite, als Sturmwind bereits unruhig in der Pferdebox tänzelte, mit den Hufen scharrte und ein aufgeregtes Wiehern hören ließ.
Das Mädchen riss die Tür auf und fiel dem Schimmel um den Hals. »Hallo, mein Alter. Ich freu mich, dich zu sehen!«
Der Hengst wieherte freudig, und auch aus der Nachbarbox ertönte ein ungeduldiges Schnauben, sodass Laura sich danach umdrehte. »Ist ja gut, Salamar«, rief es dem dort stehenden Schimmel zu, der sich erwartungsvoll an die Absperrung drängte. »Ich freu mich natürlich ebenso, dich wiederzusehen!«
Percys Pferd antwortete mit einem lauten Prusten.
»Er scheint dich verstanden zu haben, Laura«, rief eine sonore Männerstimme aus dem Halbdunkel. Sie gehörte dem Besitzer des Stalls, Nikodemus Dietrich, der, wie immer die rauchende Pfeife im Mundwinkel, zu Laura trat.
Laura lächelte den älteren Mann freundlich an. »Ich weiß. Salamar ist eben ein Schmeichler! Aber es wird ihm nichts nutzen. Ich kann nur ein Pferd reiten, und das ist natürlich Sturmwind.«
Der Bauer tätschelte dem Schimmel den Hals und fuhr dann durch die dichte schwarze Mähne des Hengstes. »Das wird Sturmwind bestimmt freuen. Er war richtig traurig, als du in den Winterferien nicht nach ihm sehen konntest. Die Sehnsucht hat ihn fast umgebracht, und vor lauter Kummer hat er nicht richtig gefressen! Wohin willst du heute reiten, Laura?«
»Die gleiche Strecke wie immer. Warum fragen Sie?«
Der Bauer zog ein paar Mal an der Pfeife und ließ Qualmwölkchen aufsteigen, bevor er antwortete. »Mein Zwillingsbruder war vorhin bei mir. Kastor sagt, die Leute im Dorf erzählen, sie hätten den Roten Tod gesehen.«
S chwerelos schwebte das Luftfloß hoch über dem Land der Flussleute dahin. Die zahllosen Wasserläufe und Seen, die die sattgrüne Landschaft durchzogen, glänzten im Licht der Nachmittagssonne. Das blaue Segel war vom Wind gebläht, und die stete Brise
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