Laura Leander - 03 Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx
voll computerisierte Kommandopult, das sich darin befand, hatte Laura bereits vor einigen Tagen bewundert. Die unzähligen Schalter, Hebel, Knöpfe und Anzeigegeräte hatten sie an das Cockpit eines Flugzeugs erinnert. Kein Wunder – schließlich
wurden alle beweglichen Teile des Untiers damit gesteuert: die kurzen Beine mit den krallenbewehrten Tatzen; der saurierähnliche Kopf und der schier endlose Schwanz; die beiden Flügel auf seinem Rücken; die fast fußballgroßen Augen und das Drachenmaul. Und natürlich auch die Vorrichtungen, die stinkenden Qualm aus den Nasenlöchern steigen oder lodernde Feuerstöße aus dem Maul des Monsters zucken ließen, sodass es einem wandelnden Flammenwerfer glich.
Percy hatte sich in der ersten Reihe der Zuschauerbänke niedergelassen und sich trotz des Hämmerns der Kulissenbauer, die im Hintergrund ein altes Stadttor zimmerten, in ein Textbuch vertieft. Die Vögel in den Bäumen kamen mit ihrem fröhlichen Gezwitscher nicht gegen den Lärm an.
Laura gesellte sich zu ihrem Lehrer und musterte ihn fragend. »Na – hast du alles im Griff?«
»Natürliisch!« Die betont zuversichtliche Miene, die Percy zur Schau stellte, wirkte nicht ganz überzeugend. »Iisch bin mir ganz siischer, dass die diesjä’rige Auffü’rung zu einem ‘ö’epunkt inderja’r’undertealten’istoriedesDrachenstiischswerdenwird.«
Lauras Blick verriet, dass sie Percys Optimismus nicht teilte. Und wie zur Bestätigung tat es einen mächtigen »Rumms« in ihrem Rücken – und der Kopf des Drachen plumpste wie ein Stein zu Boden.
»Doucement! Doucement! Niischt, dass noch ein Unglück passiert!« Percy sprang erschrocken auf und eilte auf das Modell zu, aus dem soeben Hannes und Lukas krochen, um sich das Malheur mit bleichen Gesichtern anzusehen. Lauras Bruder hob beschwichtigend die Arme. »Ich bin doch nur an einen klitzekleinen Hebel gekommen, weiter nichts!«, erklärte er mit kläglicher Stimme.
Oh! Oh!
Geschieht meinem neunmalklugen Bruder nur recht!
Bestimmt meint er den Steuerhebel, auf den Hannes mich neulich schon aufmerksam gemacht hat. »Der ist offensichtlich nicht richtig eingestellt. Die kleinste Berührung genügt, und der Drachenkopf saust zu Boden«, hatte er gesagt. »Sei bitte vorsichtig, denn der Schädel hat ein Mordsgewicht. Wo der draufdonnert, wächst kein Grashalm mehr.«
Laura grinste stillvergnügt, während sie den Blick über das geräumige Freiluft-Theater schweifen ließ, das in einem Talkessel in unmittelbarer Nähe der Drachenthaler Burgruine gelegen war. Die Überreste des alten Gemäuers und insbesondere des mächtigen Bergfrieds, der gleich einem hohlen Zahn nicht weit hinter den letzten Sitzreihen in die Luft ragte, bildeten eine nahezu perfekte Kulisse für den »Drachenthaler Drachenstich«, der in der Open-Air-Arena aufgeführt wurde. Alljährlich strömten Massen von Besuchern aus allen Teilen des Landes und vereinzelt sogar aus dem Ausland herbei, um die Abenteuer des Drachentöters Sigbert zu erleben. Den Höhepunkt des fast zweistündigen Schauspiels bildete stets der Kampf des unerschrockenen Helden gegen den grässlichen Drachen, und obwohl der Ausgang des Duells feststand, zitterten die Zuschauer jedes Mal aufs Neue um den kühnen Recken, bis er dem wütenden Lindwurm das Schwert ins Herz stieß und dieser endlich in den Staub sank, ein letztes Mal Feuer spuckend und laut röchelnd.
Dieser Zweikampf hatte schon bisher überaus lebensecht gewirkt. Percy jedoch hatte seinen ganzen Ehrgeiz darangesetzt, die Aktionen des Lindwurms noch aufregender und noch spektakulärer zu gestalten. Deshalb hatte er sich nicht nur vehement für die Anschaffung des neuen Drachenmodells eingesetzt, sondern probte auch schon seit Wochen mit den Akteuren des historischen Schauspiels. Und das waren eine ganze Menge! Laura schätzte die Zahl der Drachenthaler Bürger, die in die Rollen von edlen Grafen, ehrbaren Bürgern, fleißigen Handwerkern, braven Bauern, ausgebeuteten
Lehnsmännern, geschundenen Knechten, ruppigen Soldaten und verrohten Landsknechten schlüpften, auf weit mehr als hundert. Sie alle wurden benötigt, um die Legende vom Drachentöter Sigbert so realistisch wie möglich darzubieten.
Lauras Gedanken schweiften ab. Sollte Rika Reval tatsächlich Recht haben? Hatte dieser Sigbert wirklich das Vorbild für den Nibelungenhelden Siegfried abgegeben? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Parallelen zwischen den Helden fielen ihr ein: Beide
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