Laura Leander - 03 Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx
Menschenstern. Sie soll ihm einen ›Albtraum‹ bescheren, wie die Menschen das nennen. Vielleicht wird er dadurch nicht nur erschreckt, sondern er deutet die Botschaft auch richtig und findet wieder auf den rechten Weg zurück.« Meister Orplid nahm noch einen Schluck Tee, bevor er sich wieder an seine Schützlinge wandte. »Lasst mich hören: Was ist für euch das fürchterlichste Wesen von ganz Aventerra?«
»Die Graumahre«, sagte Glitsch.
»Gurgulius der Allesverschlinger«, antwortete Glutsch.
»Die Schwarzalben in den Feuerbergen«, fand Glatsch.
»Borboron, der Schwarze Fürst«, meinte Gletsch.
Nur Somni zuckte ratlos mit den Schultern.
Der Traumspinnermeister seufzte schwer. »Alle, die ihr genannt habt, sind fürwahr zum Fürchten. Aber es gibt ein Wesen, das noch weit größere Furcht einflößt als sie: die Silberne Sphinx. Ihr Orakel ist tödlich, denn niemand vermag es zu lösen.«
Die Lehrlinge sahen sich verängstigt an; aus ihren Gesichtern wich das letzte Grün.
»Deswegen«, fuhr Meister Orplid fort, »habe ich die Silberne Sphinx auch ausgewählt, um diesen Menschen zu ängstigen.« Er beugte sich vor, bis seine Nasenspitze fast die von Somni berührte. »Und ausgerechnet die Erleuchtlinge, die ich mühsam zu dieser Schreckensbotschaft zusammengesponnen habe, setzt du frei? Weißt du überhaupt, was du damit angerichtet hast?«
Somni schluckte. »Vielleicht… Vielleicht hat sie ja den Richtigen erreicht?«, gab er schüchtern zu bedenken.
»Jetzt hör sich einer diesen Dreistängelhoch an!« Orplids Blick wanderte von einem Lehrling zum anderen. »Schon für den Meister ist es äußerst schwierig, die Erleuchtlinge zielgenau zu dirigieren. Häufig landen sie beim Falschen oder kommen überhaupt nicht an. Der Weg von uns bis zum Menschenstern ist unendlich weit, und die Grenze zwischen den Welten ist nicht einfach zu überwinden.«
»Ich weiß«, antwortete Somni kleinlaut.
»Und da meinst ausgerechnet du, der du noch nicht einmal die Grundbegriffe unserer Kunst beherrschst, dass der von dir freigesetzte Albtraum beim Richtigen landet?«
Der kleine Traumspinner wagte nicht mehr zu antworten.
»Ich will nur hoffen, dass die Erleuchtlinge sich verirrt und den Menschenstern nicht erreicht haben«, fuhr Meister Orplid fort. »Sonst hat der Albtraum am Ende noch einen Unschuldigen in Angst und Schrecken versetzt, einen Menschen, der überdies keinerlei Chance hat, die Botschaft richtig zu deuten!«
L aura und Lukas hätten sich gar nicht so beeilen müssen, denn der Bus hatte Verspätung. Lukas schien das nicht weiter zu stören. Er setzte sich in das Wartehäuschen, holte ein Buch aus seinem Rucksack und begann zu lesen. Der Titel war so kompliziert, dass Laura ihn gar nicht begriff. Nur aufgrund der Unterzeile wurde ihr klar, dass es irgendwie mit Quantenphysik zu tun haben musste.
Laura verzog das Gesicht. Dieser Lukas! Nicht einmal in seiner Freizeit konnte er seinen Wissenschaftsfimmel ablegen! Nun ja – ihren Segen hatte er. Solange er sich deswegen nicht aufspielte. Allerdings hatte sie die Hoffnung längst aufgegeben, dass er jemals von dieser üblen Angewohnheit lassen würde.
Je länger sich die Warterei hinzog, umso mehr ärgerte sich Laura, dass sie sich von ihrem Bruder davon hatte abhalten lassen, nach Drachenthal zu reiten. Ihr Schimmel brauchte dringend Bewegung. Und das Ende vom Lied war, dass sie nun ewig auf den dämlichen Bus warten musste! Nie mehr! Nie mehr werde ich mich von Lukas beschwatzen lassen, schwor sie sich insgeheim. Morgen werde ich garantiert mit Sturmwind ausreiten.
Schließlich tauchte der Bus doch noch auf. Er musste schon einige Jahre auf dem Buckel haben, denn der Motor schnaufte und ächzte wie ein asthmatischer Traktor, bis das altersschwache Gefährt endlich an der Haltestelle angekommen war. Mit quietschenden Bremsen stoppte er genau vor dem Schild mit dem Logo des HDVV, wie die Abkürzung für den »Hohenstadt-Drachenthaler-Verkehrs-Verbund« lautete. Ohne den Blick von seinem Buch zu heben, stieg Lukas hinter seiner Schwester ein.
Der Fahrer trug eine blaue Dienstuniform nebst gleichfarbiger Mütze. Er wollte schon die Türe schließen, als er im Rückspiegel sah, dass ein junger Mann auf dem Gehweg herangehetzt kam. Offensichtlich wollte er auch noch mit. Der Busfahrer erwies sich als vorbildlicher Vertreter seiner Zunft und wartete so lange, bis der späte Fahrgast das Gefährt erreicht hatte.
Der Mann – er mochte auf die
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