Laura Leander - 03 Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx
nachzusehen, ob Köpfers Grab wieder zugeschüttet war oder immer noch offen stand, wie bei ihrem letzten Besuch auf dem verfemten Friedhof? Mach es Laura!, flüsterte eine energische
Stimme in ihrem Kopf. Das kann doch nicht allzu lange dauern. Dann hast du wenigstens Gewissheit, ob der Untote sein Grab wieder verlassen hat oder nicht! Noch während Laura der Stimme lauschte, trieb sie Sturmwind mit leichtem Schenkeldruck an und lenkte ihn in Richtung Wolfshügel. Der Hengst gehorchte nur höchst widerwillig, trug seine Reiterin aber doch an die gewünschte Stelle.
Der Alte Schindacker lag in einer Senke, die von keinem Sonnenstrahl mehr erreicht wurde. Die Dämmerung hatte sich über das Ödland gesenkt, auf dem sich nur die dürren Zweige verkrüppelter Büsche und verwachsenen Gesträuchs emporreckten wie höhnische Schattengeister. Obwohl es bald Sommer war, konnte Laura nirgends eine Spur frischen Grüns entdecken. Die Vegetation war wie tot. Als hätte der unheimliche Flecken Erde ihr den Lebenssaft ausgesaugt.
Sturmwind schnaubte ungehalten und scharrte unruhig mit den Vorderhufen.
Laura jedoch beachtete die Warnung ihres Hengstes nicht und trieb ihn hinunter in die Senke. Als sie den mächtigen Wacholderbusch am Rande des Schindackers umrundete, war es, als marschiere eine Armee winziger Eistrolle über ihren Rücken. Gänsehaut überzog ihre Arme, und die Härchen auf ihren Handrücken richteten sich auf.
Wie in Trance glitt Laura aus dem Sattel und näherte sich dem Grabstein von Konrad Köpfer. Der Erdhaufen, der sie damals auf das offene Grab aufmerksam gemacht hatte, war verschwunden. Offensichtlich war es damit gefüllt worden. Nichts mehr deutete darauf hin, dass es jemals geöffnet worden war.
Die Schatten um sie herum wurden dichter, doch Laura beachtete sie nicht. Nachdenklich starrte sie auf den eingeebneten Boden. Lag der Rote Tod wieder in seinem Grab? Oder War es leer und einfach nur zugeschüttet worden? Doch sosehr Laura auch überlegte, sie kam zu keinem eindeutigen Schluss. Das gefüllte Grab bewies nichts, aber auch rein gar nichts! Weder dass Konrad Köpfer wieder unter den Toten weilte noch das Gegenteil. Sie hätte sich diesen Abstecher sparen können. Sie war einer fixen Idee aufgesessen, wer auch immer sie ihr eingepflanzt haben mochte.
Sturmwinds Wiehern ließ Laura zusammenfahren. Und da sah sie die Krähen. So weit das Auge reichte, schwammen sie gleich einem fliegenden Ölteppich über ihr und verwehrten ihr den Blick zum Himmel. Immer noch gaben die Totenvögel keinen Laut von sich. Dafür stanken sie so entsetzlich, dass Laura würgen musste. Während sie sich noch über die Ursache dieses Übelkeit erregenden Geruchs wunderte, riss der schwarze Vorhang urplötzlich auf, und aus der Mitte des Krähenschwarms stieß ein Wesen nieder, das alles an Grauen übertraf, was Laura jemals begegnet war.
K apitel 13 Der Angriff der
Harpyie
ie gelähmt starrte Laura auf das geflügelte Ungeheuer, das wie ein riesiger Geier auf sie zustürzte. In einem Schwall pestartigen Gestanks rauschte es heran, und das Mädchen erkannte mit Entsetzen, dass das Monster den Kopf und den Oberkörper einer ausgemergelten Greisin besaß.
Eine Harpyie!
Ein Sturmdämon! Die Augen des Ungeheuers funkelten blutrot, während Laura aus dem zahnlosen Mund ein irres Gelächter wie von einer Wahnsinnigen entgegenschlug.
Schon fuhr die Harpyie spitze Aasgeierkrallen aus, um ihrem Opfer das Gesicht zu zerfetzen, als Laura sich endlich rührte. Aber obwohl sie zurückwich, schien ihr Tod unausweichlich.
Es war der Grabstein des Henkers, der das Mädchen rettete. Der Sturmdämon kreischte schon triumphierend auf, spreizte die Krallen und wollte eben zuschlagen, als Lauras rechter Fuß an dem von Moos überwucherten Stein hängen blieb und sie ins Stolpern geriet. Gleichsam in Zeitlupe registrierte sie, dass der tödliche Hieb sie um Millimeter verfehlte, während die Harpyie, laut aufkreischend vor Wut und Enttäuschung, dicht über sie hinwegstrich. Laura schrie auf. Sie musste auf einen spitzen Stein gefallen sein, denn ihr war, als werde ihr ein Messer in den Rücken gerammt. Der Schmerz und der Gestank, den das Untier verbreitete, drohten ihr die Sinne zu rauben. Kleine Sterne blitzten vor ihren Augen auf. Hilflos wie ein auf dem Rücken liegender Käfer musste sie mit ansehen, wie das Ungeheuer sich zehn, zwanzig Meter in die Höhe schraubte und erneut zum Angriff ansetzte. Gleich einem gefiederten
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