Laura Leander 04 - Laura und der Fluch der Drachenkönige
traten. »Sie muss hier sein. Ich hab sie doch gesehen!« Erneut wollte Laura sich losreißen, um sich in den See zu stürzen.
»Beruhige dich!« Der Mann hielt sie unerbittlich fest, während er auf sie einredete. »Bitte! Ich werde dir alles erklären.«
Der flehende Unterton seiner Worte ließ Laura zur Besinnung kommen. »Da bin ich aber mal gespannt«, brummte sie, immer noch missmutig, während sie dem Dunkelhaarigen aus dem Wasser folgte.
Unter den tief herabhängenden Zweigen einer Torkelweide graste ein weiterer Vierbeiner. Er war etwas feingliedriger als der Schimmel und trug zwei dünne, spindelförmige Hörner auf der Stirn. Sie glänzten in der Sonne, als wären sie aus Elfenbein.
Sichtlich überrascht vom Anblick des Fremden, glitt Venik, der soeben herantrabte, vom Rücken seines Hornbüffels. »Wer ist das denn?«, fragte er mit misstrauischem Seitenblick auf den triefenden Mann. »Gehört ihm das Zweihorn?«
»In der Tat – Melusine gehört mir. Und verzeiht, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe: Ich heiße Riaanu und lebe am Oberlauf des Schlangenflusses, der in diesen See mündet.«
Ohne zu beachten, dass seine Hirschlederhose und sein Leinenkittel vor Nässe troffen, ließ er sich im Gras nieder und forderte Laura und Venik auf, es ihm gleich zu tun. »Der See der Erinnerung ist gefährlich«, erklärte er, nachdem auch Laura und Venik sich vorgestellt hatten. »Er bietet einen so einladenden Anblick, dass man den unbändigen Wunsch verspürt, sich augenblicklich in die Fluten zu stürzen.«
»Unsinn!«, widersprach Laura mürrisch. »Bei der Hitze hier würde man auch in jedes andere Gewässer springen – und zwar auf der Stelle.«
Riaanu wahrte die Ruhe. »In der Umgebung dieses Sees ist es immer heiß«, erklärte er. »Das ist ein Bestandteil der Illusionen, die er erzeugt.«
»Illusionen?«, wiederholte das Mädchen ungläubig. »Welche Illusionen denn?«
»Jeder, der den Verlockungen des Sees nachgibt und in ihm badet, wird augenblicklich von Erinnerungen an längst Vergangenes übermannt. Je länger man im Wasser verweilt, desto lebhafter und plastischer werden sie, bis sie schließlich real erscheinen.«
»Aber – was ist daran so schlimm? Es spricht doch nichts dagegen, sich an die schönen Momente seines Lebens zu erinnern, oder?«
»Natürlich nicht.« Der Mann lächelte. »Gefährlich wird es erst, wenn man sich so tief in seinen Erinnerungen verstrickt und sich so sehr darin verliert, dass das Verlangen übermächtig wird, ganz in sie einzutauchen – was im Falle dieses Sees tödlich enden kann.« Riaanus Augen glänzten wie Smaragde. »Versteht ihr, was ich meine?«
»Klar«, sagte der Junge leichthin. »Für einen Magier wie mich ist das doch kein Problem.«
Laura hingegen war nachdenklich geworden. »Willst du damit sagen, dass meine Mutter und dieses Baby…«
»… nichts als Illusion waren – genauso ist es, Laura. Es handelte sich um Bilder, die deine Erinnerung dir vorgegaukelt hat, nachdem du mit dem Wasser in Berührung gekommen bist.«
»Aber Anna wirkte so real, als habe sie tatsächlich dort gestanden.«
Der junge Mann legte mitfühlend eine Hand auf ihren Arm. »Das ist ja das Böse daran.«
»Aber was hatte dieses Baby zu bedeuten? Und warum habe ich die beiden vor kurzem schon einmal gesehen?«
Riaanu hob ratlos die Brauen. »Das weiß ich nicht, Laura. Es erklärt jedoch, warum die Illusion vorhin so stark war. Offensichtlich beschäftigt sich deine Erinnerung schon seit geraumer Zeit mit den beiden – und deshalb warst du besonders empfänglich für den Einfluss des Sees. Du wirst in der nächsten Zeit sicher noch öfter mit Trugbildern zu kämpfen haben. Sei auf der Hut und wappne dich, damit du nicht auf das hereinfällst, was man dir vorzugaukeln versucht!«
»So was sagt sich leicht«, antwortete Venik an Lauras Stelle. »Dabei ist es gar nicht so einfach. Mein Vater zum Beispiel beherrschte das Kunststück, sich in jemand anderen zu verwandeln – und zwar so perfekt, dass es niemandem auffiel. Nur schade, dass er mir das nicht mehr beibringen konnte.«
T rotz der hellen Mittagsstunde herrschte Zwielicht im Wohnraum von Albin Ellerking. Dr. Schwartz hatte sich vor dem Internatsgärtner aufgebaut und musterte ihn streng. »Hast du dir alles genau eingeprägt?«
Der Mann mit den tiefgrünen Augen verzog unwirsch das Gesicht mit der Knubbelnase. »Aber natürlich«, sagte er mit piepsiger Stimme, die so gar nicht zu seiner
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