Lauter Bräute
Annahme von einem Ende bis zum anderen durchgesucht, aber die Sendung war nicht zu finden. Sie ist einfach nicht da, Miß Evans!«
»Aber ich habe Ihnen doch die Lieferscheine gegeben«, sagte ich. »Und die Lieferscheine sind der Beweis dafür, daß die Kleider vom Fabrikanten angeliefert worden sind. Mr. Poinder selbst zeichnet die Lieferscheine ab, wenn die Sendung eingeht, und schickt sie uns herauf.«
»Ich weiß, ich weiß, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Kleider nicht da sind. Wir haben die Annahme von oben nach unten gekehrt und keinen Fetzen entdeckt.«
»Gehen wir in mein Büro«, sagte ich.
Dort angekommen, klingelte ich Kay Enson in der Telefon Vermittlung an. »Kay, dies ist dringend. Ich möchte eine Voranmeldung für Mr. John Giachino, Giachino Brothers, Boston.« Ich gab ihr die Nummer, klemmte mir den Hörer zwischen Schulter und Kinn und schlug die entsprechende Seite in meinem Auftragsbuch auf. Es war ein paar Minuten vor zwei und sehr gut möglich, daß Mr. Giachino nicht in seinem Büro war; die meisten Fabrikanten in Neu-England pflegen sich jedoch den ganzen Tag nicht aus ihren Fabriken zu rühren. Sie gönnen sich nicht den Luxus eines Mittagessens.
Es klickte in der Leitung, und Kay Enson sagte: »Hier ist Ihr Gespräch mit Boston.« Gleich darauf hörte ich John Giachino: »Hallo, Miß Evans! Was kann ich für Sie tun?«
»Ich rufe an wegen unseres Auftrags B 439 — «
»Spitze, perlenbestickt? Plus zehnmal Seidenorganza für die Brautjungfern? Glänzende Arbeit. Das müssen Sie doch zugeben, Miß Evans. Da haben wir ausgezeichnet und tip-top gearbeitet, stimmt’s?«
»Mr. Giachino — «
Er war offenbar ein Anhänger der These, daß der Angriff die beste Verteidigung ist. Aufgeregt sprudelte er weiter: »Miß Evans, ich habe persönlich jedes Detail dieses Auftrages überwacht. Da kann nichts schiefgegangen sein. Ich garantiere, daß jedes Kleid tadellos in Ordnung ist — «
»Da bin ich ganz sicher, Mr. Giachino. Nur können wir die Sendung bei uns nicht finden.«
»Was war das?«
»Die Kleider sind nicht hier, Mr. Giachino. Ich rufe an, um Sie zu fragen, ob sie denn tatsächlich geliefert wurden.«
»Miß Evans, ich habe persönlich das Einpacken überwacht, den Versand, alles. Sie kennen unseren Ruf. Wir liefern immer pünktlich. Haben wir Sie schon einmal im Stich gelassen? Haben wir—«
»Mr. Giachino, würden Sie bitte Ihre Unterlagen prüfen?«
»Bleiben Sie am Apparat.«
Ich konnte ihn im Hintergrund wild losbrüllen hören. Miß Greene beobachtete mich mit unruhigen Augen. Wenige Augenblicke später war Mr. Giachino wieder am Apparat. »Miß Evans? Ich habe die Unterlagen eingesehen. Hier haben wir sie. Der gesamte Auftrag B 439 ist wie bestellt gestern nachmittag um 3.15 bei Fellowes, Fifth Avenue, angeliefert worden. Ich habe die Unterzeichneten Quittungen zum Beweis vor mir liegen. Sie sind gezeichnet J. Poinder.«
»Vielen Dank, Mr. Giachino. Ich wollte mich auch nur vergewissern.«
Das war das. Eine Möglichkeit ausgeschaltet. Ich legte den Hörer auf und sagte zu Miß Greene: »Versuchen wir noch einmal Mr. Poinder.« Vor meinem Büro stieß ich mit Mrs. Hatfield zusammen und bat sie, mit mir zu kommen. »Die Annahme hat eine Sendung verlegt. Wir müssen sie finden. Die Braut und ihre zehn Brautjungfern werden in einer halben Stunde hier sein, und die Hochzeit ist nächste Woche.«
»Grundgütiger Himmel«, sagte Mrs. Hatfield.
»Es ist eine Katastrophe«, sagte Miß Greene.
»Noch ist es keine«, erwiderte ich. »Gehen wir.«
Die Annahme erstreckt sich über das gesamte Kellergeschoß von Fellowes. Sie ist einen ganzen Häuserblock tief und erweckt den Eindruck, noch größer zu sein. Zwei große Paketrutschen führen hinein, und außerdem gibt es einen Lastenaufzug für alles, was nicht in die Rutschen paßt, wie beispielsweise ein Flügel oder ein antikes Büfett. Alles, was bei Fellowes verkauft wird, kommt durch die Rutschen herein oder quietscht im Aufzug abwärts; jeder Lippenstift, jedes Paar künstliche Wimpern, jedes Paar Schuhe, Kleider, Blusen, Mäntel, Hüte, Korsetts oder Nerzstolen, Cocktailmixer, Aschenbecher, Schreibmaschinenbänder. Was es auch sei, hier wird es von Fellowes vereinnahmt. Jeden Tag wälzt sich eine ständige Lawine von Paketen heran, und unten in der Annahme herrscht lärmende Geschäftigkeit - Rumpeln, Poltern, Rufen, das schrille Quietschen von Förderbändern und das Rattern von Handkarren, und
Weitere Kostenlose Bücher