Lautlose Jagd
und General Cho jedoch berechtigt und hatten den ständigen Befehl, einen Angriff auszulösen, falls Südkorea zuerst losschlug; in diesem Fall würde Präsident Kim ohne zu zögern oder lange zu fragen sofort einen Gegenschlag mit Spezialwaffen befehlen. Das bedeutete, dass Kim und Cho außergewöhnlich viel Macht hatten wie nur wenige Männer auf dieser Welt.
Leutnant An erkannte rasch, welchen Zweck die im Aufzug verstreuten Lebensmittel hatten. Da es nur einen Lift gab, der ins Befehlszentrum hinunterführte, da er sich so langsam bewegte und da er nur drei bis vier Personen fasste, war er ständig in Benutzung. Aber jetzt konnte niemand die Zentrale betreten oder verlassen.
Sobald Ans Augen sich an das hier herrschende Halbdunkel ge-wöhnt hatten, konnte er Einzelheiten des Befehlszentrums erkennen. Es glich einem Theater mit einem hölzernen Bühnenpodium, einem »Orchesterraum« für Computer- und Nachrichtentechniker und dahinter halbkreisförmig angeordneten Sitzen für den Verteidigungsminister, seine Stellvertreter, hohe Kommandeure und ihre Mitarbeiter. Hinter dem kreisförmigen Gang, von dem aus die Sitze zu erreichen waren, lagen Konferenzräume, Bespre-chungskabinen und weitere Arbeitsräume für Mitarbeiter. Auf der Bühne waren nur wenige Bildschirme zu sehen; ansonsten herrschten altmodische Tafeln, mit Folie überzogene Landkarten und Flussdiagramme vor, die von Technikern mit Wischlappen und Fettstiften auf dem neuesten Stand gehalten wurden. Alles war viel kleiner und primitiver, als An erwartet hatte. Aber hier gab es reichlich Sicherheitspersonal. Vizemarschall Kim und Generalleutnant Cho schienen ständig einen bewaffneten Leibwächter neben sich zu haben, und zwei weitere Leibwächter patrouillierten auf dem kreisförmigen Gang, von dem aus sie die gesamte Zentrale im Auge behalten konnten.
»Sie bringen diesen Karton zu dem Plotter hinauf, Leutnant«, befahl Major Hong ihm laut, »und wenn Sie wieder einen tollpat-schigen Fehler machen, tue ich mehr, als Sie vor Ihren Offiziers-kameraden bloßzustellen. Beeilung!« An verbeugte sich und hob den Karton auf, den Hong ihm zeigte. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, und von Hong kam nicht der geringste Hinweis. Das einzige Gerät, das wie ein Plotter aussah, stand auf der Bühne vor den hohen Kommandeuren. An schluckte trocken, setzte sich in Bewegung und folgte dem Mittelgang zum Podium hinunter. Unten hielt er einfach auf die nächsten Stufen zu. Dann war er oben auf der Bühne, wusste noch immer nicht, wohin er sollte, und bewegte sich zögernd in Richtung Bühnenmitte.
Plötzlich hörte er Major Hong hinter sich plärren: »Leutnant, was zum Teufel machen Sie schon wieder?«
An blieb stehen und sah sich nach Hong um, der irgendwo im Hintergrund der Zentrale stand. Alle Anwesenden - von Vizemarschall Kim bis zum kleinsten Schreiber - starrten ihn neugierig an. »Genosse Major, ich...«
In diesem Augenblick schien die Welt in einem grellweißen Lichtblitz und mit einem ohrenbetäubenden Knall zu explodieren.
Wer seine Augen wie An offen und nicht mit einer Spezialbrille geschützt hatte, wurde durch die zwei Kilogramm schwere Blendgranate in dem Karton, die Major Hong mit einem Funkbefehl ge-zündet hatte, augenblicklich geblendet und gelähmt.
Als Leutnant An lange Zeit später zu sich kam, lag er am Büh-nenrand. Er trug noch immer seinen Poncho, den er jetzt auszog, und hatte seine MP5K vor der Brust hängen. Als er sich umdrehte, sah er hinter sich mehrere Offiziere und Unteroffiziere, die an Handgelenken und Fußknöcheln mit Nylonhandschellen gefes-selt und mit Packband geknebelt waren. Einige stießen erstickte Flüche aus, aber die meisten schwiegen verbissen. Major Hong gab ihm eine Feldflasche mit Wasser, das er sich übers Gesicht kippte.
Das kalte Wasser war wundervoll erfrischend - sein Gesicht fühlte sich an, als habe er einen starken Sonnenbrand.
»Willkommen im Land der Lebenden, Leutnant«, sagte Hong mit beruhigendem Lächeln. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ich sehe noch immer schlecht«, antwortete An, »aber ich bin unverletzt, denke ich.«
»Ich glaube, Sie sind der erste Mensch, dem eine zwei Kilogramm schwere Blendgranate in den Händen detoniert ist«, fuhr Hong fort. Der Major sprach überlaut, denn er wusste, dass An noch die Ohren summten. »Freut mich, dass sie nicht tödlich ist - zumindest nicht, wenn sie von einem wegweist.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: »Die Zeit
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