Lautloses Duell
Licht des dunstigen Tages herein. Vom Fußballplatz hörte er das Geschrei seiner Klassenkameraden, die brüllten, lachten, Tore schossen und hin und her rannten. Die Sportstunde um 9 Uhr 30 hatte eben erst angefangen. Eigentlich sollte Jamie auch draußen auf dem Platz sein, und Booty war garantiert nicht begeistert davon, dass er sich schon wieder hier vor dem Computer verkroch.
Aber Booty wusste es ja nicht.
Dabei hatte Jamie eigentlich nichts gegen den Direktor des Internats, ganz im Gegenteil. Wie hätte er auch jemanden nicht gut leiden können, der sich um ihn kümmerte. (Im Gegensatz zu, sagen wir mal, Jamies Eltern: »Dann bis zum zwanzigsten, Sohnemann … Ach nein, das geht ja nicht. Da sind deine Mutter und ich in Mallorca und kommen erst am ersten oder siebten wieder. Dann aber bestimmt. Bis dahin alles Liebe, wir vermissen dich, tschüssi!«)
Jamie wusste, dass Booty als Schuldirektor von dreihundert Jungen auch mal durchgreifen musste, wenn es darum ging, die Jungs zu bestrafen, die fluchten, heimlich rauchten, sich die Nächte um die Ohren schlugen oder Pornoheftchen einschmuggelten. Wie sollte es sonst gehen? Es gehörte einfach zum Spiel. Klar, die Paranoia des Mannes war oberkrass. Sie führte dazu, dass sie jede Nacht eingesperrt wurden, dass überall Alarmanlagen und andere Sicherheitseinrichtungen installiert waren und dass er ständig wissen wollte, wo sich seine Schüler aufhielten.
Und dass er den Jungs untersagte, mit ihren größeren und wesentlich verantwortungsbewussteren Brüdern zu harmlosen Rockkonzerten zu gehen, so lange ihm keine von den Eltern unterschriebene Einverständniserklärung vorlag, obwohl man nicht einmal genau wusste, wo sich diese Eltern überhaupt aufhielten, abgesehen davon, dass sie keine zwei Minuten Zeit hatten, um irgendetwas zu unterschreiben und rechtzeitig zurückzufaxen, ganz egal, wie wichtig einem die Sache war.
Alles Liebe, tschüssi …
Deshalb nahm er die Sache jetzt selbst in die Hand. Jamie schwebte im siebten Byte-Himmel und tackerte glückselig auf seine Tastatur ein. Er rückte die Brille zurecht – er trug immer eine Brille mit Sicherheitsgläsern – und las blinzelnd, was auf dem Schirm geschrieben stand.
Er dachte daran, wie wunschlos glücklich er war: Er arbeitete hart an einer Aufgabe, die sowohl etwas mit Computern zu tun hatte, als auch mit der Möglichkeit, sich mit seinem Bruder zu treffen, der als Toningenieur in einem Veranstaltungsort in Oakland arbeitete. Mark hatte seinem jüngeren Bruder mitgeteilt, dass er ihn ins Santana-Konzert reinbringen und womöglich sogar Backstage-Ausweise mit unbegrenztem Zugang organisieren könne. Dass die Aufgabe ein Regelverstoß war – schließlich musste er dafür den Passcode von Herrn Mein Führer Booty, Verzeihung, von Mr. Willem Cargill Boethe, Erziehungswissenschaftler und Hochschulprofessor, knacken –, nahm der Herausforderung nichts von ihrem Glanz, sondern machte das Projekt natürlich nur noch spannender.
Trotzdem hatte Jamie sich einen festen Rahmen vorgegeben. Wenn er nicht bis halb sieben aus der Schule raus war, musste sein Bruder auf ihn verzichten, damit er noch rechtzeitig zur Arbeit kam. Genau dieser Termin war das Problem. Denn aus St. Francis herauszukommen, war nicht so einfach. Man konnte sich nicht an zusammengeknoteten Bettlaken aus dem Fenster abseilen, wie es die Kinder in den alten Filmen immer machten. St. Francis sah zwar wie eine alte spanische Burg aus, seine Sicherheitstechnik war jedoch absolut High Tech.
Selbstverständlich konnte Jamie sein Zimmer verlassen; das war nicht abgeschlossen, nicht einmal nachts. St. Francis war schließlich kein Gefängnis. Durch die Brandschutztür konnte er sogar das Gebäude verlassen – vorausgesetzt, er schaffte es, den Feueralarm auszuschalten. Selbst das brachte ihn nur hinaus aufs Schulgelände, das von einer vier Meter hohen, mit Stacheldraht gekrönten Steinmauer umgeben war. Da rüber zu kommen war unmöglich, zumindest für ihn, einen pausbäckigen Stubenhocker mit Höhenangst; es sei denn, er knackte den Passcode zu einem der Tore, die zur Straße hinausführten.
Bis jetzt hatte er sich ohne Schwierigkeiten in Bootys Dateien eingehackt und die Datei mit dem Passcode (die – superschlau, Booty! –»Sicherheitscodes« benannt war) heruntergeladen. Die Datei enthielt natürlich eine verschlüsselte Version des Passworts, die erst aufgedröselt werden musste, bevor Jamie es benutzen konnte. Doch Jamies
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