Lautloses Duell
Inzwischen gingen sie fast parallel zueinander zu beiden Seiten einer hohen Buchsbaumhecke. Anderson schlich geduckt weiter und blinzelte durch den Regen. Jetzt konnte er das Gesicht des Mannes gut sehen. Eine starke Neugier erfasste ihn: Was brachte diesen jungen Mann dazu, diese schrecklichen Verbrechen zu begehen?
Die Neugier ähnelte dem Gefühl, das er immer verspürte, wenn er eine neuartige Software untersuchte oder über den Fällen der CCU grübelte – nur war sie jetzt ausgeprägter, denn im Gegensatz zu den Grundlagen der Computertechnik und der Technik, die diese Verbrechen erst möglich machte, blieb ein Verbrecher wie dieser hier für Andy Anderson ein einziges Rätsel.
Abgesehen von dem Messer, abgesehen von der Pistole, die er in der Hand hielt oder auch nicht, wirkte der Mann harmlos, beinahe freundlich.
Der Detective wischte sich die regennasse Hand am Hemd ab und legte die Finger fester um den Griff seiner Pistole. Weiter. Das hier war, verflucht noch mal, etwas völlig anderes, als ein paar Hacker von einem öffentlichen Terminal wegzuverhaften oder Wohnungen zu durchsuchen, bei denen die größte Gefahr von vergammelten Essensresten ausging, die sich direkt neben der Kiste eines Teenagers stapelten.
Näher heran, noch näher …
Sechs, sieben Meter weiter vorne kreuzten sich ihre Wege. Dort hatte Anderson keine Deckung mehr, und das hieß, dort musste er wohl oder übel zuschlagen.
Einen Augenblick lang verließ ihn die eigene Courage, und er blieb stehen. Er dachte an seine Frau und seine Tochter. Und daran, wie fremd er sich hier vorkam, völlig fehl am Platz. Nein, dachte er, ich folge dem Killer nur bis zu seinem Wagen, schreibe mir das Kennzeichen auf und verfolge ihn dann, so gut es geht, weiter.
Aber dann dachte Anderson an die Toten, die dieser Mann auf dem Gewissen hatte, an den Tod, den er anderen bringen würde, wenn er ihm jetzt nicht Einhalt gebot. Vielleicht war das hier die einzige Chance überhaupt, ihn zu schnappen.
Er setzte sich wieder in Bewegung, auf dem Weg, der den des Mörders kreuzen würde.
Vier Meter.
Drei …
Er holte tief Luft.
Verlier nicht die Hand in der Tasche aus den Augen, rief er sich ins Gedächtnis.
Ein Vogel flog dicht vorbei, eine Möwe. Der Mörder drehte sich um, schaute ihr erschrocken nach und lachte.
In diesem Moment stürmte Anderson hinter den Büschen hervor, streckte dem Mörder die Pistole entgegen und rief: »Stehen bleiben! Polizei! Hände aus den Taschen!«
Der Mann wirbelte herum, starrte den Polizisten an und murmelte: »Scheiße.« Er zögerte einen Augenblick.
Anderson richtete die Pistole auf die Brust des Mörders. »Sofort! Keine hastigen Bewegungen!«
Der Mann nahm die Hand aus der Tasche. Anderson behielt die Finger im Auge. Was hat der Kerl in der Hand?
Dann hätte er fast laut gelacht. Es war eine Hasenpfote. Eine Kette mit einem Glücksbringer.
»Fallen lassen!«
Sein Gegenüber befolgte die Anweisung und hob dann resigniert die Hände über den Kopf, so lässig wie jemand, der mit dieser Prozedur bereits vertraut war. Anderson bemühte sich darum, nicht allzu erleichtert zu wirken, und warf einen zweiten Blick auf die Hasenpfote; er wollte nicht, dass der Mörder merkte, wie neu das alles für ihn war.
»Jetzt auf den Boden legen! Die Arme ausbreiten!«
»Mann!«, stieß der Bursche hervor. »Mann! Wie habt ihr mich, verdammt noch mal, gefunden?«
»Los, mach schon!«, wiederholte Anderson mit leicht zitternder Stimme.
Der Mörder legte sich auf den Boden, halb ins Gras und halb auf den Gehweg. Anderson kniete sich sofort über ihn, stieß ihm die Mündung der Pistole ins Genick und legte ihm Handschellen an, was erst nach mehreren Versuchen gelang. Dann durchsuchte er den Mörder, nahm das gezackte Messer, ein Handy und die Brieftasche an sich. Der Kerl hatte tatsächlich eine kleine Pistole dabei, aber die steckte in seiner Jacke. Waffen, Brieftasche, Telefon und Hasenpfote lagen in einem Haufen neben ihnen auf dem Gras. Anderson trat zwei Schritte zurück. Seine Hände zitterten vom Adrenalin.
»Wo sind Sie so schnell hergekommen?«, murmelte der Mann.
Anderson gab ihm keine Antwort, sondern starrte seinen Gefangenen einfach nur an, während der Schock darüber, was er gerade getan hatte, von einer Woge der Euphorie abgelöst wurde. Was für eine verrückte Geschichte er jetzt erzählen konnte. Seine Frau würde begeistert sein. Auch seiner Tochter hätte er sie gern erzählt, aber damit musste er noch
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