Lavendel und Blütenstaub
Bett."
Arme griffen nach ihr und führten sie nach oben. Wie in Trance nahm sie besorgte Stimmen um sich herum wahr. Wenn nur nicht der Schmerz wäre!
Dumpf pochte er in ihrem Körper, dann wurde es schwarz und Anna nahm die Stille dankbar auf.
"Hallo Schwesterchen! Da bist du ja wieder!"
Justus lachte. Die Sonne schien auf seinen blonden Schopf und ließ ihn hell erstrahlen.
Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn so schnell wieder zu sehen. Hatte sie nicht gerade erst letzte Nacht von ihm geträumt? Wieso träumte sie immer häufiger von ihm?
Er stand wie ein kleiner Engel vor ihr. So klein, so unschuldig und so liebenswert. Ihr Herz ging förmlich auf beim Anblick ihres geliebten kleinen Bruders, den sie so lange nicht mehr gesehen hatte.
"Hast du das Loch gefunden?", fragte er und lachte. Der Wind trug seine hellen, fröhlichen Töne über die Wiese und verteilte sie auf den farbenprächtigen Blumen, die sanft ihre Blütenköpfe kreisen ließen, als würden sie mitlachen.
"Welches Loch?", erwiderte sie, erstaunt über seine Frage und auch über dieses phantastische Bild um sie herum. Sie riss ihren Blick von den vielen duftenden Blumen los und sah Justus an.
"Na, das Loch in der Hecke."
Sie war verwundert. Wie konnte er ...? "Nein, habe ich nicht", antwortete sie.
"Du wirst es schon noch finden." Er kicherte leise in seine Hand, als hätte er sich einen Scherz erlaubt. "Und, wie war dein Tag?"
Verwundert über diesen plötzlichen Themenwechsel dachte sie kurz nach. Das reale Leben, fernab von diesem Traum, schien so weit weg. Sie fühlte sich hier so frei und ungebunden, dass es ihr für einen kurzen Moment nicht möglich war, an das 'Drüben' zu denken. Doch dann die Erinnerung. Die Schmerzen, die erlösende Ohnmacht ...
Ein Schauer lief ihr bei diesem Gedanken über den Rücken. Schlief sie nun oder war sie bewusstlos? Oder gar schon tot? Sie wusste es nicht.
"Es war nett", beantwortete sie schließlich Justus' Frage.
"Was war nett?"
Sie dachte nach. "Das Gespräch mit Erni, Erwin, Stella und Jonathan."
"Wer ist Erni?"
"Erni ist vom Hospiz."
"Hospiz? Was ist ein 'Hospiz'?"
Sie dachte nach. Wie erklärte man einem kleinen Jungen, was eine Hospizbewegung war? "Hm ... Hospiz heißt, dass jemand beim Sterben begleitet wird."
"Wieso wirst du begleitet beim Sterben?"
"Weil das manchmal so gemacht wird. Erni wird mich begleiten. Und meine Familie. Das finde ich eigentlich sehr schön."
"Mich hat niemand begleitet." Er sagte es unschuldig und kindlich. Fast nüchtern.
Es versetzte ihr einen Stich ins Herz. "Nein, Justus", sagte sie traurig. "Dich konnte niemand begleiten."
"Und die Erni begleitet dich?"
Sie nickte.
"Ist sie lieb?"
"Ja, ich denke schon."
"Stirbt sie also auch?"
Sie blickte verwundert. "Nein, warum sollte sie sterben?"
"Sonst kann sie dich doch nicht begleiten", sagte Justus aus voller Überzeugung. "Außerdem hast du doch schon einen Begleiter."
"Ach ja? Wen den?"
"Na, mich!" Stolz stand er da, grinste und streckte seine schmale Brust.
Sie sah auf ihn und lächelte. "Das heißt, ich kann mit dir mitgehen? Bin ich also tot?"
Sie sagte es leichthin. Fast erleichtert. Wäre es schlimm, wenn das Leben jetzt vorbei wäre? Nein, beschloss sie, sie hatte keine Angst mehr. Wenn es 'drüben' im Jenseits nur halb so friedlich wäre wie hier, dann wäre das ein sehr schöner Ort zum Bleiben.
Justus schüttelte den Kopf. Wieder flogen die blonden Haare und reflektierten die Sonnenstrahlen.
"Du bist noch nicht soweit, Schwesterchen. Lass dir noch ein wenig Zeit. Ruh dich aus."
Dann drehte er sich um, ging zur Hecke und verschwand in einem kleinen Loch.
"Justus! Justus, warte!" Anna weinte und rief. Mit den Armen griff sie um sich.
"Mama, beruhige dich doch! Ist ja schon gut!"
"Anna? Können Sie mich hören? Atmen Sie ganz ruhig. Wir sind bei Ihnen. Schön tief einatmen, ausatmen. Ja, so ist es gut. Sehen Sie?"
Anna öffnete die Augen. Sie lag im Schlafzimmer in ihrem Bett. Draußen war es finster. Erwin, Stella und Erni waren um sie versammelt und sahen sie an - ihre Familie mit angsterfüllten Blicken, Erni ruhig und beinahe besonnen. Leise sprach sie auf Anna ein.
Ihr Herzschlag beruhigte sich und sie ließ sich zurück in ihr Kissen sinken. Sie schloss die Augen und fiel in einen ruhigen, tiefen Schlaf.
Stella
Bereits zum zweiten Mal war der Name Justus gefallen. Stella dachte nach, doch sie konnte sich nicht erinnern, jemanden zu kennen, der so hieß.
Weitere Kostenlose Bücher