Lavendel und Blütenstaub
habe mich dort versteckt und ICH habe nicht aufgepasst. DU", er tippte auf ihre Schulter, "konntest NICHTS dafür! Verstehst du! Und nun hör auf zu weinen", sagte er sanfter. "Hier wird nicht geweint. Das hier", er wies mit der Hand über den Garten, "ist kein Ort der Traurigkeit, sondern der Freude und des Wiedersehens! Also hör auf damit und reiß dich zusammen!"
Sie wischte die Tränen aus dem Gesicht. "Das hat Vater auch immer gesagt, weißt du noch?"
Justus nickte. "Ja, das hat er. Ich kann mich erinnern. Wenn ich mir das Knie angeschlagen oder die Zehen gestoßen habe, hat er immer gesagt: 'Sohn, reiß dich zusammen!' Und ganz ernst geguckt hat er." Justus versuchte den Blick und den Tonfall nachzuahmen. Dann lachte er.
Sie betrachtete ihren kleinen Bruder. Es tat so gut, ihn zu sehen. Mit ihm zu sprechen. Mit ihm zu lachen.
"Danke, Bruderherz", sagte sie und wuschelte ihm durch die Haare.
"Wofür?"
"Dafür, dass du mir verzeihst." Sie lächelte.
Justus schüttelte den Kopf. "Du irrst dich. Ich habe dir nicht verziehen."
Sie erstarrte.
"Du hast dir selbst verziehen!" Und wieder lachte er schallend.
Erwin
Stella hatte ihn angerufen. Er war ganz überrascht gewesen und hatte schließlich Panik bekommen. War Mutter wieder im Krankenhaus? War sie gar schon gestorben?
Doch Stella hatte ihn beruhigt. Ob er früher kommen könne, Anna ginge es nicht gut.
An ihrem Bett setzte er sich auf den Stuhl und sah seine Mutter an. Stella war unten in der Küche und räumte ein wenig auf, bevor Dr. Werneck kam.
Schon vor ein paar Tagen hatten sie den Termin ausgemacht. Eigentlich hatte Erwin nur anrufen wollen, um über den Krankheitsverlauf von Anna zu sprechen, doch der Arzt hatte angeboten, vorbeizukommen.
Anna lag entspannt im Bett. Ihr Gesicht war von Falten durchzogen, und doch konnte Erwin die Ähnlichkeit zu Stella feststellen. Sie kam ganz nach Mutter, musste er sich eingestehen. Ob sie sich deshalb so gut verstanden? Er fühlte einen leichten Stich im Herzen.
Stella war schon immer Annas Liebling gewesen und Johanns kleiner Stern. Mit Argwohn und Eifersucht hatte Erwin, der mitten in der Pubertät steckte, als Stella noch ein Kind war, den liebevollen Umgang zwischen Eltern und Tochter mitverfolgt. Er war immer nur der Sohn gewesen, der alles erben würde. Der Sohn, der "Waren-Lukas" weiterführen würde. Stella jedoch standen alle Türen offen. Sie war die Tochter, die gut behütet aufwuchs, ohne in einen vorgefertigten Weg gedrängt zu werden.
Er jedoch, Erwin, wurde nie gefragt und hatte nie die Wahl. Er war eben kein Stern. Er war der Sohn, und aus.
Anna regte sich. Langsam schlug sie die Augen auf.
Er rückte näher zu ihr ans Bett und nahm ihre Hand.
"Erwin", hauchte Anna, als sie ihren Sohn erkannte.
"Hallo Mutter. Wie geht es dir?" Er sprach leise. Es war eine ruhige, friedliche Atmosphäre im Raum.
Anna blickte um sich und richtete sich auf. "Gut", sagte sie. "Mir geht es gut." Sie sah auf sich herab. "Ich möchte aufstehen."
"Aber Mutter, du ..."
"Hilf mir auf!", sagte Anna energisch.
Erwin war überrascht, wagte aber nicht zu widersprechen. Er half ihr beim Ankleiden und begleitete sie die Treppe hinunter.
Stella stand mit dem Geschirrtuch in der Hand in der Küche und starrte auf Anna. "Mama! Alles in Ordnung?", fragte sie, nicht minder überrascht wie Erwin. "Was machst du?"
Anna blickte entschlossen in den Garten hinaus. "Ihr müsst mir helfen", sagte sie. "Alle beide!"
Stella sah zu Erwin. "Was hast du getan?", giftete sie ihn leise an.
Er hob abwehrend die Hände. "Gar nichts! Sie ist wach geworden und wollte gleich aufstehen! Hätte ich sie festhalten sollen?"
Anna war schon in den Garten gegangen. Neben dem Haus, an der Rückseite der Garage, stand ein alter Holzschuppen. Anna hatte die Tür geöffnet und kramte im Halbdunkeln herum.
"Was suchst du, Mama?" Stella klang besorgt.
"Wo ist die Hacke? Wo ist die Axt? Irgendwo hier müssen sie doch sein!"
Erwin schob sich an Anna vorbei und sah nach. "Hier sind die Sachen." Er hob sie hoch. "Was hast du vor?"
"Kommt mit."
Stella und Erwin tauschten argwöhnisch einen Blick.
Anna ging durch den Garten, geradewegs auf die Hecke zu. Sie hob die Hand und wies in einer ausladenden Geste auf die ganze Längsseite des Gartens. "Macht die Hecke weg! Und wenn ihr es nicht macht, dann mach ich es!"
Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihre Kinder mit funkelnden, entschlossenen Augen an.
"Aber warum? Was ist
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