Lavendel und Blütenstaub
Hände, die leicht angespannt auf dem Tisch lagen. Johanns Stirnrunzeln, wenn er in sich versunken einem Gedanken nachgrübelte. Ob Erwin wusste, dass er seinem Vater in jungen Jahren so ähnlich war? Ach, wie sehr sie ihn doch vermisste! Sie wünschte, er würde hier neben ihr sitzen können, sie halten, sie trösten, gemeinsam mit ihr lachen. So ausgelassen lachen, wie Aurelia und Jonathan. Sie scherzten und neckten sich, und schufen mit ihrer jungen Lockerheit eine entspannte Atmosphäre. Anna lehnte sich zurück.
Stella setzte sich neben sie. "Hattest du genug?"
"Ja, danke." Anna schob ihren Teller beiseite.
"Geht es dir gut?", fragte Stella leise.
"Ja, ja." Sie winkte ab. "Ich melde mich schon, wenn etwas nicht stimmt." Dann meinte sie lauter: "Kommst du morgen auch, Erwin?"
Unerwartet angesprochen sah Erwin zu Anna, dann zu Stella. Diese zeigte keine Reaktion, also nickte er. "Ja, wenn es recht ist, würde ich gerne kommen." Er lächelte zögernd.
"Fein." Anna schlug die Hände freudig zusammen. "Dann werde ich mal nach oben gehen. Ich bin müde."
Stella half ihr auf. "Soll ich mitkommen?"
"Nein, Sternchen, du kannst ruhig noch hierbleiben. Ich schaffe das schon."
Im Schlafzimmer setzte sich Anna auf ihr Bett. Sie drückte die Hände vor ihr Gesicht und fing zu weinen an.
"Wieso?", flüsterte sie. "Wieso gerade jetzt? Wieso ICH?"
Sie bekam keine Antwort. Verzweifelt drückte sie ihr Gesicht in ihr Kissen und schluchzte laut hinein. Niemand sollte sie hören. Niemand sollte ihre Verzweiflung bemerken. Der Krebs kam zu einem undenkbar schlechten Zeitpunkt. Sie hatte noch so viel zu erledigen, doch die Zeit rann ihr davon. Das fühlte sie.
Auch wenn sie nach außen hin gefasst wirkte, so war sie doch verzweifelt. Wieviel Zeit würde ihr noch bleiben? Würde sie die von ihr so sehr erwünschte Versöhnung ihrer Kinder noch miterleben können?
Es gab Tage, da fand sie sich ab mit ihrem Schicksal. Da nahm sie es hin und fügte sich. Ihr einziger Wunsch war dann nur, dass der Leidensweg nicht zu lang werden würde.
Doch an anderen Tagen holte sie die Verzweiflung ein. Da kamen die Wut und der Zorn über diese Krankheit an die Oberfläche. In diesen Momenten war sie einfach nur hilflos, vom seelischen Schmerz erfüllt und schrie gedämpft in ihr Kissen. Sie litt leise. Niemand sollte sie so sehen.
"Hallo Schwesterchen! Da bist du ja endlich!"
Da stand er wieder. Der kleine blonde Junge mit den glasklaren Augen. Justus.
Es war ein Traum, das wusste sie, doch es fühlte sich für sie an, als sei dies die Wirklichkeit. Als sei sie nur durch eine Tür gegangen, um ihn zu sehen.
"Hallo Justus", sagte sie und zerzauste ihm die Haare, so wie sie es früher gemacht hatte, bevor er ... Sie verdrängte den Gedanken.
"Warum schaust du schon wieder so traurig?" Justus sah sie von unten herauf an. Wie beim letzten Mal stand er barfuß neben ihr.
Sie seufzte. "Es ist kompliziert."
"Was heißt 'kompliziert'?"
"Kompliziert ist, wenn etwas schwierig ist."
"Und was ist so schwierig bei dir, dass du traurig bist?"
"Ich werde bald sterben", sagte sie gerade heraus. Sie hatte das Gefühl, als müsste sie ihm die Wahrheit sagen. Er würde es schon verstehen.
"Ja, und? Alle Menschen sterben einmal. Ich bin ja auch schon gestorben", sagte er mit kindlicher Stimme.
So naiv und doch so weise, bemerkte sie überrascht. Und doch war es die Wahrheit, in einfachen Worten ausgedrückt.
Sie sah auf Justus herab. "Macht dir das nichts aus?"
"Was soll mir was ausmachen?"
"Dass du tot bist."
Er schüttelte den Kopf. Die blonden Haare flogen in alle Richtungen.
"Warum sollte es mir etwas ausmachen?", fragte er.
Sie suchte nach Worten. "Na, weil ... weil man dann nichts mehr machen kann."
"Aber man kann doch noch ganz viel machen."
"Und man muss liebe Menschen zurücklassen."
"Aber man trifft sie doch wieder!"
Justus hatte scheinbar auf alles eine einfache, kindliche Antwort.
Sie war erstaunt. "Ist es wirklich so? Trifft man wirklich alle wieder?"
Eifrig nickte er mit dem Kopf. "Soll ich dir mal was verraten?"
Sie nickte.
Justus zog seine große Schwester zu sich herab, streckte sich und flüsterte ihr ins Ohr: "Sie stehen alle bereit, wenn deine Zeit gekommen ist."
Die Nebel lichteten sich. Nur langsam fand Anna zurück in die Wirklichkeit. Es war, als hätte sie ein Gummiband um die Taille geschlungen, dass sie fest und unbarmherzig zurück in die Realität holte; zurück in ihr Bett in ihr
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