Lavendel und Blütenstaub
nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Onkel und seine Mutter unter einem Dach waren, ohne zu streiten. Seit der Hecken-Aktion, wie er sie nannte, war die Situation aber merklich entspannter. Das war auch ihm aufgefallen. Er freute sich für Onkel Erwin. Vielleicht würde es ja doch noch etwas werden mit der Versöhnung.
Es war ein schwüler Sommerabend. Die Wolken hingen schwer am Himmel und die Hitze drückte unerbittlich auf die verschwitzten Menschen herab, die durch die Innenstadt eilten. Vor dem Kino blieb Jonathan stehen und sah auf sich herab. Ihm war so heiß, dass sich dunkle Schweißflecken unter den Achseln gebildet hatten. Er hob ein wenig die Arme und fächelte sich Luft zu. Das hatte gerade noch gefehlt. Vielleicht würden sie noch trocknen, bevor Sybille kam.
"Ist dir heiß?"
Jonathan fuhr herum und ließ die Hände sinken.
"Ähm, ja, ein bisschen. Scheiß Wetter, oder?" Unbeholfen deutete er mit dem Daumen nach oben.
Sybille hob den Kopf. Ihre roten gelockten Haare waren leicht zusammengebunden und mit einer Spange hochgesteckt. Vereinzelte Strähnen hingen in ihr Gesicht und im Nacken. "Ich mag die Hitze. Solang ich nicht in der prallen Sonne liegen muss, hab ich kein Problem damit", lachte sie. Ihre Haarlocken wippten und die Sommersprossen auf ihrer Nase schienen zu tanzen.
Jonathan hätte am liebsten eine Strähne aus ihrem Gesicht gestrichen und ihr Gesicht berührt.
"Außerdem wird es heute eh noch kühler."
"Ach ja?", sagte er abwesend, noch immer auf ihr Gesicht starrend.
"Hörst du das?"
"Was?" Er sah auf.
"Es donnert."
"Ach, das ist ja ewig weit weg!"
Sybille sah Jonathan mit funkelnden grünen Augen an. "Ich wette, dass in der nächsten halben Stunde ein Gewitter kommt!" Sie lachte wieder und hielt ihm die Hand hin.
Jonathan sah kurz zum Himmel und schlug ein. "Und ich wette, dass es nach dem Film noch genauso heiß ist wie jetzt."
Doch Sybille hatte recht. Der Film hatte nicht einmal begonnen, war auch schon tiefes Donnergrollen zu hören, das stetig lauter wurde. Nach dem Vorspann krachte es zweimal so laut, dass Jonathan das Gefühl hatte, der Sitz unter ihm würde vibrieren.
Sybille sah ihn im dämmrigen Licht schmunzelnd an. Wusst' ich's doch, schien ihr Blick zu sagen.
Sie hat mich verzaubert, schoss es ihm durch den Kopf. Für solch hübsche rothaarige Frauen haben sie im Mittelalter die Scheiterhaufen aufgestellt, dachte er noch flüchtig, dann krachte es ohrenbetäubend laut. Kurz darauf gingen die Lichter aus und auf der Leinwand wurde es schwarz. Stromausfall. Ein Raunen ging durch das Publikum.
"Oh oh", sagte Sybille. "Das war's dann wohl." Sie kicherte. "Komm, lass uns gehen."
Im Schein der Notlichter bewegten sie sich mit der Menschenmenge nach draußen. Beinahe hätte Jonathan Sybille aus den Augen verloren, doch dann spürte er eine Hand, die seine mit festem Griff packte.
Aus dem Kino strömten hunderte Menschen. Die meisten ruhig und gelassen, ein paar hatten ängstliche Gesichter. Das Gewitter war weitergezogen und wütete nördlich der Stadt. Was blieb, war ein Regenguss, der innerhalb von Sekunden die Leute durchnässte.
"Was hab ich dir gesagt!", rief Sybille durch den laut prasselnden Regen zu Jonathan. Sie hatte den Kopf gehoben und die Augen geschlossen. Die Hände streckte sie zum Himmel. Warm rann ihr das Wasser die Wangen und den Hals hinunter.
Jonathan stand fasziniert vor ihr und konnte den Blick nicht von ihr losreißen.
Was war nur mit ihm los? War er tatsächlich verliebt? Verliebt in Sybille-Brille?
Anna
Es gab tagelang so viel zu erzählen. So viele Abenteuer, so viele Streitereien und so viel Blödsinn, den sie gemacht hatten. Mit jedem Tag fiel ihr mehr über Justus ein und in Erwin und Stella fand sie dankbare Zuhörer. Auch Aurelia lauschte den Geschichten aus längst vergangenen Tagen.
Niemand hatte geahnt, welchen Kummer Anna mit sich herumgetragen hatte. Welche Schuldgefühle sie in all den Jahrzehnten geplagt hatten. Niemand hatte auch nur eine Ahnung von Justus.
So lange hatten die Erinnerungen in Anna geschlummert, nun brachen sie alle an die Oberfläche. Sie war jedoch nicht traurig darüber, im Gegenteil. Es tat so gut, darüber zu sprechen. Justus wurde dadurch lebendig und greifbar.
Abwechselnd saßen Erwin, Stella und Aurelia an Annas Bett oder begleiteten sie in den Garten. Gabriela war nie mit. Sie passte währenddessen meistens auf Sebastian und Marina auf und hielt sich lieber im
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