Lavendel und Blütenstaub
gesagt und ihr über die blonden Haare gestreichelt.
Anna schloss die Augen und hörte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zu. Der Brei war vergessen, und für einen kurzen Moment auch ihr kranker Körper. Was zählte, waren die Erinnerungen, die wie frisch gesät wieder in ihrem Kopf herumschwirrten.
Von Erwin und den finanziellen Problemen sagte Stella nichts. Sie musste die Vergangenheit ruhen lassen, das war ihr nun klar geworden.
Anna
Sie lauschte gerne der Stimme ihrer Tochter. Sie klang so angenehm, war ruhig, aber nicht zu leise, war hell, aber nicht zu schrill und sie war beruhigend. Wenn Stella sprach, dann konnte sie loslassen und einfach nur zuhören.
Der September war spürbar geworden. Am Morgen lag die Kühle des Herbstes in der Luft und Morgentau benetzte die Wiesen.
Von Tag zu Tag sprach Anna weniger. Viel lieber hörte sie zu; meist mit geschlossenen Augen.
Neben Stella, Erwin und Aurelia kamen auch Jonathan und Erni nun fast täglich zu ihr. Jonathan zierte sich ein wenig, in der Nähe seiner Oma zu sein. Anna hatte das Gefühl, dass er Angst hatte. Sie konnte es ihm jedoch nicht verübeln, in seinem Alter hätte sie wohl auch nicht gerne sterbenskranke Menschen am Bett besucht.
Anders als Jonathan bewegte sich Erni, wenn sie da war, sofort zu Annas Bett, streichelte ihren Arm, begrüßte sie und redete mit ihr. Die Gespräche mit Erni taten so gut. Sie hörte zu, sie verstand, sie antwortete.
Wenn Anna schlief, dann war Erni ruhig und störte nicht. Wenn Anna weinte, dann reichte sie ihr ein Taschentuch und hörte zu. War Anna wütend und hatte einen Zorn auf die Krankheit, dann schrie Erni mit und hielt ihr ein Kissen, in das sie schlagen konnte. Das wiederum brachte Anna zum Lachen und Erni lachte mit.
"Sie machen ihre Sache ganz gut", sagte Anna eines Tages zu Erni.
Sie hatte die Augen geschlossen und dem Zwitschern der Vögel zugehört, deren Laute durch das offene Fenster getragen wurden. Nicht mehr lange, und sie würden sich auf den Weg nach Süden machen. Ihr Wiederkommen würde Anna nicht mehr erleben, das wusste sie.
Erni saß neben ihr und lächelte. "Ich mache es gern", sagte sie ruhig.
"Haben Sie eigentlich Angst vor dem Tod?", fragte Anna und öffnete die Augen. Sie waren grau geworden in all den Jahren und die Krankheit hatten den Glanz dumpf gemacht.
Erni schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe keine Angst."
"Warum nicht?"
"Er gehört zum Leben dazu, oder?"
"Ja, wohl wahr", sagte Anna. "Aber es ist so traurig, wenn man gehen muss und die Lieben zurück bleiben."
"Denken Sie nicht, dass Sie sie vielleicht wiedersehen?"
Anna lächelte. "Das hat Justus auch gesagt."
"Wer ist Justus?"
"Justus ist mein kleiner Bruder", sagte sie stolz.
"Sehen Sie sich oft?"
"Ja, ganz oft." Anna legte ihre Hand auf die Brust über ihr Herz. "Er kommt mich ganz oft besuchen."
"Komm mit, ich zeig dir was!"
Justus stand unter dem Nussbaum und erwartete sie bereits. Sie ging barfuß aus dem Haus durch das taufeuchte Gras auf ihn zu. Der Boden war warm. Fast wie ein weicher, flauschiger Teppich. Oder fühlte sie nur keine Kälte?
Justus streckte ihr die Hand entgegen. "Komm schon!", sagte er noch einmal, nun ein wenig ungeduldig.
Sie trug ihr weißes, langes Nachthemd. Sanft wehte der Wind durch den dünnen Stoff und ließ ihn leicht wehen und flattern. Es war, als würde der Wind sie streicheln und willkommen heißen. Es fühlte sich angenehm an.
"Wo gehen wir hin?", fragte sie neugierig.
"Das wirst du gleich sehen", vertröstete Justus sie.
Er führte sie durch den Garten. Der ansonsten ungestüme, fröhliche Junge wirkte ruhig und hielt kräftig ihre Hand in seiner.
Er führte sie zum Bach, in dem nur ganz wenig Wasser floss. Flache Steine schauten aus dem sanft dahinplätschernden Nass hervor. Justus stieg auf den ersten Stein und sah zu ihr auf.
"Vertrau mir", flüsterte er.
"Ich vertraue dir", sagte sie. Sie hatte keine Angst.
Schritt für Schritt stiegen sie über den Bach, beide barfuß, so wie früher.
Auf der anderen Seite war ein großes Feld. Das Gras stand hoch und schaukelte sanft im Wind.
"Was machen wir hier?", fragte sie.
"Du wirst schon sehen", antwortete Justus. "Warte, bis die Sonne aufgeht."
Sie wandte sich um. Sie erkannte einen Schein am Horizont. Es musste noch ganz früh am Morgen sein. Warum war ihr das nicht aufgefallen?
"Warte", sagte Justus. "Gleich ist es soweit."
Sie wartete. Ganz langsam sah sie, wie sich die
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