Lazyboy
weitergrabe, stoße ich auf eine weitere Erinnerung, ich bin zwei Jahre alt oder annähernd drei. Und es scheint, dass ich alleine im Haus bin, zum allerersten Mal. Ich stehe in meinem Zimmer, das sehr groß und sehr weit ist. Ich lege die enorme Strecke bis zu der Zimmertür zurück, die noch eine wirkliche Grenze darstellt. Und ich sehe noch meiner Hand dabei zu, wie sie sich zur Türklinke emporreckt. Und dann öffnet sich langsam die Tür, aber hinter der Tür ist nicht das, was dort sein sollte: Flur, Teppichboden, die weiß lackierten Stangen des Treppengeländers, die bis ins Erdgeschoss hinabführen. Sondern ein abstraktes, schreckliches, absolutes Toben, ein Furor, ein Brausen und Stöhnen, ein Taumel, der mich in sich hineinzieht, der sich meiner bemächtigt und in mir wogt, Farben, Formen, Feuer und ein Tosen, das ich viel später, erst im Nachhinein, mit dem Lärm von Formel-1-Motoren assoziiere. Die sichtbare Welt ist in Unordnung geraten, ist Chaos, sie hat ihr wirkliches Wesen enthüllt. Ich öffne die Tür und sehe das ganz Andere. Ich bin ihm wehrlos ausgeliefert. Ich schreie. Ich stehe dort in der Tür, Rotz und Wasser laufen mir aus dem Gesicht, und so findet mich meine Mutter und befreit mich von diesem Anblick, der mich mehr erschüttert als manch anderes danach.
Ich liege im Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ich betrachte das kleine Haus, in dem ich jetzt untergebracht bin, das Haus des Mittlers. So ähnlich stelle ich mir die Hütte vor, die sich Thoreau an seinen Weiher gebaut hatte, um zwei Jahre einsam darin zu verbringen. Ein einzelner Raum mit einem Tisch, zwei Stühlen, dem Bett in der Ecke, dem Nachtschrank, einem gusseisernen Ofen, auf dem ich etwas kochen kann, zwei Hängeschränken, einem Waschtisch, die Pumpe ist vor dem Haus, einer Truhe, einem Bücherregal, einem Sessel und einem Kleiderschrank. Zwei Petroleumlampen.
Ich bin mit ihr mitgegangen, mit der anderen Monika. Mit der von der anderen Seite. Und sie glich der meinen wie ein Haar dem anderen, obwohl ich nicht weiß, wie sehr sich Haare wirklich im Einzelnen gleichen oder unterscheiden. Sie kannte mich nicht. Sie sah nichts in mir. Sie hatte keine Ahnung, wer ich war. Es war genau wie bei Daniela und Frau Merbold. Es hat sie nicht interessiert, dass ich der Mittler bin. Für sie war nur interessant, dass ich ein Mann war, den sie mit nach Hause nehmen konnte. Und das hat sie getan. Sie nahm mich mit in ihr Haus, wo sie mir die Praxisräume zeigte. Auf der Untersuchungsliege haben wir miteinander geschlafen, einfach so.
Wir haben wenig miteinander gesprochen. Vorher fragte sie, ob ich auch ein glücklich machendes Kraut probieren wolle, man sei dann viel gelöster. Ich habe abgelehnt. Ich wollte nicht gelöst sein, ich wollte Festigkeit, ich wollte Klarheit und Ordnung und dass sich die Dinge erklären. Sie war auch gar nicht wie Monika, so vertraut der Körper zunächst erschien. Sie war laut und ruppig, es fühlte sich alles zu weit und verkehrt an, sie gab sich zu sehr hin oder her. Und ich war froh, als ich wieder auf der Straße vor ihrem Haus stand. Sie hatte mich ohnehin loswerden wollen. Rauchte wieder ihr Pfeifchen. Und ich taumelte der Wand entgegen, jenem Ort und jenen Menschen, die noch am ehesten Heimat darstellten in diesem Moment.
Sie hatten schon nicht mehr mit meiner Rückkehr gerechnet, hier, auf der richtigen Seite. Sie waren bereits dabei, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass ich nur ein weiterer Hallodri gewesen sein sollte, der sich Schritte zugetraut hatte, die sich als zu groß für ihn erwiesen.
Aber dann stand ich da in der Tür mit meinem Brot in der Hand. Und ich musste alles immer und immer wieder erzählen. Im Park erst, später im Bürgermeisterzimmer. Wie ich begeistert empfangen worden war. Wie ich auf den Schultern der Bewohner durch die Stadt getragen wurde. Wie tausend und eine Frage nach dem Befinden der Brüder und Schwestern gestellt wurden. Von den Tränen und dem begeisterten Gelächter. Von den ständigen Umarmungen. Von der Wärme und der Liebe und der überwältigten Freude. Von den tausend Grüßen, die ich ausrichten solle. Und dass das Brot nur ein klägliches Symbol für die tiefe Verbundenheit sein könne. Und jetzt liege ich hier, nachdem ich mich ein wenig eingerichtet habe. Ich bin der Mittler, ein sonderbares Gefühl. Ich bin jetzt angekommen, aufgenommen, sagt man mir, und ich fühle mich falsch und schlecht und schmutzig. Ich habe schon wieder mit einer
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