Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
Hexensprung war zu Ende, fröhliche Narren zogen durch die Gasse auf dem Weg zu einer Weinstube. Er ging zum Computer, öffnete mit ein paar Fingerbewegungen den Mediaplayer und wählte ein Album von Marianne Faithfull. Nach ein paar Sekunden ertönten die ersten Takte von »Vision of Johanna«. Auch Leah hatte diese rauchige, ausdrucksstarke Stimme geliebt. Er verbot sich weitere Gedanken an seine Frau, um nicht in Schwermut zu verfallen. Stattdessen fragte er sich, wie sich sein Verhältnis zu Bettina Berg entwickelt hätte, wenn ihre Beziehung zu seinem Sohn von Dauer gewesen wäre. Vermutlich wäre Tobias eifersüchtig geworden. Thal erschrak ein bisschen, weil er merkte, dass er über die Trennung der beiden froh war. Damit er sich nicht für schäbig halten musste, redete er sich ein, dass die Beziehung einer Kriminalkommissarin mit dem Redaktionsleiter der örtlichen Tageszeitung ohnehin problematisch gewesen wäre.
Thal setzte sich auf das Sofa und schlug die Bettdecke zurück. In den nächsten Tagen würde er im Wohnzimmer, dessen Fenster auf der Straßenseite lagen, kaum Ruhe finden. Ab morgen um sechs Uhr würden ununterbrochen Guggemusiker durch die Niederburg ziehen. Aber er brauchte Schlaf. Nicht nur sein Körper, auch sein Geist schrie danach. Langsam, mit schweren Schritten ging er ins Schlafzimmer. Eine Sekunde stand er unschlüssig vor der verschlossenen Tür, eher er vorsichtig die Klinke herunterdrückte. Er hatte den Raum seit damals nicht betreten. Die stickige, abgestandene Luft nahm ihm fast den Atem. Er öffnete das Fenster und holte tief Luft. Zurück im Wohnzimmer, griff er nach den Briefen, die sich auf der Konsole stapelten. Einige wollte er noch einmal lesen. Zuerst öffnete er aber einen Brief ihres Berliner Galeristen, der vorgestern in der Post gewesen war. Nach einer kurzen, sachlichen Bekundung des Beileids kam man gleich zur Sache. Es sei zwar womöglich nicht der richtige Zeitpunkt, aber man wisse, dass es noch viele Bilder und Plastiken von Leah Braasch gäbe, die bisher noch niemandem angeboten worden wären. Nach Leahs Tod gewännen sie an Wert. Wenn Thal als Erbe sich in der Lage fühle, seien sie gerne zu einem Gespräch bereit.
Thal hatte darüber noch nicht nachgedacht. Gab es noch viele Bilder? Waren sie wertvoll? Wie stand es überhaupt um seine Finanzen? Von seinem A 12-Gehalt konnte er sich die imposant Wohnung nicht leisten.
Thal schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Er musste anfangen, die Realität zu akzeptieren. Aber nicht heute. Morgen! Jetzt war er zu müde. Er raffte die Bettdecke zusammen. Als er sich umdrehte, um das Kopfkissen zu ergreifen, fiel sein Blick auf den in Brauntönen gehaltenen »Bronski« über dem Sofa. Manches sollte man sofort erledigen. Er legte die Decke auf den Boden, stellte sich auf die Sofalehne und hängte das Bild ab. Er mochte es nicht. Es hing an diesem exponierten Platz, weil Leah ihrem Freund Bronski helfen wollte, als er finanziell in der Klemme steckte. Thal lehnte das Gemälde an die Wand und ging mit schlurfenden Schritten Richtung Schlafzimmer.
Kapitel zwei: Die Verführung
Er hatte sich vorgenommen, im Schlaf Kraft zu tanken, aber er hielt es nicht lange aus im Bett. Zu sehr wühlte ihn das gestrige Erlebnis auf. Noch vor der Dämmerung stand er auf und duschte ausgiebig. Das eiskalte Wasser konnte das Adrenalin nicht aus seinem Körper vertreiben. Er musste raus, auf die Straße, sich bewegen. Seit einer halben Stunde lief er am See entlang. Am Hafen wandte er sich nach links, vorbei am luxuriösen Inselhotel über die Rheinbrücke zur Seestraße. Jetzt ging er langsamer an den Gründerzeithäusern entlang, in denen sich einige der teuersten Wohnungen der Stadt befanden. Es war ruhig, die guten Konstanzer Bürger schliefen noch. Nur in wenigen Fenstern schimmerte Licht. Frühaufsteher oder Spätheimkehrer. Über dem See hing dichter Nebel, sodass er das Schweizer Ufer nicht sehen konnte. Langsam beruhigte er sich, obwohl er immer noch sein gestriges Modell vor Augen hatte. Im Grunde genommen war die Frau zu alt für seine Zwecke. Und blond war sie zudem. Blond schloss er bei seinen Planungen immer aus. Verführung, Hingabe, Ekstase und Erfüllung verband er seit seiner Jugend mit schwarzen Haaren. So pechschwarz wie Karolas Haare sollten sie sein, die ihm erst Lust und danach Schmerz bereitet hatte. Blonde Frauen kamen als Modell nicht infrage. Er hatte zu spät gemerkt, dass sie eine
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