Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
einer langen, heißen Dusche und einem opulenten Frühstück zu beginnen. Nach einem Blick in den Kühlschrank verwarf sie diesen Plan. Außer einem leicht angegammelten Päckchen Schinken und einem noch verschweißten Stück Gruyère, dessen Verfallsdatum mehr als einen Monat überschritten war, befanden sich nur noch eine Flasche Weißwein und ein halber Liter Milch im Kühlschrank. Sie packte Schinken und Käse in eine Plastiktüte, um sie in der Mülltonne vor dem Haus zu entsorgen, zog sich die weiße Daunenjacke über und verließ das Haus. Als sie den dichten Nebel sah, ging sie zur Bushaltestelle. Sie hatte Glück: Kaum dort angekommen, fuhr die Linie 4 vor.
»Ho Narro«, grüßte sie der Fahrer. Er ließ eine Reihe strahlend weißer Zähne in seinem ansonsten pechschwarzen Gesicht erscheinen.
»Passt schon«, brummte Bettina. Sie suchte sich einen Platz im hinteren Teil des am Anfang der Tour noch fast leeren Busses. Erstaunlich, wie die Fastnacht Menschen unterschiedlicher Herkunft zu faszinieren schien. Woher stammte der Fahrer? Aus Zentralafrika, vermutete Bettina. Dennoch begrüßte er an diesem Morgen jeden zusteigenden Fahrgast mit dem Ruf der Konstanzer Narren. Wahrscheinlich zog er sich nach Ende seiner Schicht ein Kostüm an und tanzte bis in die Nacht durch die Gassen der Stadt.
Von Haltestelle zu Haltestelle füllte sich der Bus mit lärmenden, bunt verkleideten Menschen. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen, von Aggressivität keine Spur. Noch hatten alle einen niedrigen Promillegehalt im Blut. Bettina ärgerte sich, nicht mit dem Auto gefahren zu sein. Am Abend, wenn sie nach Hause fahren würde, könnte das ganz anders sein.
Schnaufend ließ sich ein übergewichtiger Harlekin neben Bettina in den Sitz fallen, schaute sie mitleidig an und sagte:
»Na, wie schaust du denn aus. Bist wohl ein Fischkopp, was?«
Bettina schüttelte lächelnd den Kopf:
»Ein paar Menschen müssen selbst heute arbeiten.«
»Du armer Tropf!«
Sie lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen zurück, um nicht in ein Gespräch gezogen zu werden, ließ den Bus den Zähringer Platz passieren, von wo aus sie den kürzesten Weg zum Präsidium gehabt hätte, und stieg erst an der Marktstätte aus. Ein Spaziergang durch die Kälte tat ihr gut.
Auf den Straßen waren bereits viele Menschen unterwegs, um diese Zeit vor allem Schüler. Manche hatten schon jetzt mehr Alkohol getrunken, als ihnen guttat. Bettina Berg betrat eine Bäckerei und kaufte zwei Butterbrezeln und eine Tüte mit Fastnachtsküchlein. Als sie den Laden verließ, sah sie in einem Hauseingang einen höchstens Zwölfjährigen. Er trug ein weißes Nachthemd mit rotem Halstuch - das typische Hemdglonkergewand des Schmotzigen – und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Seine als Pippi Langstrumpf verkleidete Freundin saß auf der Straße. Sie lehnte sich an die Hauswand und trank aus einer Mineralwasserflasche, die eine leuchtend rote Flüssigkeit enthielt. Bettina war sicher, dass es sich nicht um Limonade handelte. Sie überlegte, ob sie das Mädchen ansprechen sollte, unterließ es aber.
Auf ihrem Weg durch die Niederburg kam sie an Thals Haus vorbei. Es brannte kein Licht. Schlief ihr Chef noch trotz des Lärms, der in der engen Gasse herrschte? Gestern Abend bei Antonio hatte er sich von Minute zu Minute mehr entspannt. Am Schluss war es fast wie früher. Sie mochte ihren Vorgesetzten. Er war einer der wenigen Männer, die trotz ihres guten Aussehens und ihrer Position keine Macht über Menschen ausüben wollten. Er vermittelte ihr das Gefühl, dass sie auf Augenhöhe miteinander sprachen. Außerdem versuchte er niemals eine sexuelle Annäherung. Dazu war er viel zu glücklich mit seiner Frau Leah. Tobias hatte ihr am Comer See, als sie nackt und eng aneinandergeschmiegt auf dem Balkon ihres Hotelzimmers in den klaren Sternenhimmel schauten, eine bezaubernde Liebeserklärung gemacht:
»Weißt du, Tina, ich möchte mit dir so leben wie mein Vater mit Leah. Eng aneinandergeschmiedet und gleichzeitig frei durch die Liebe.«
Bettina spürte einen Kloß den Hals hinaufwandern. Wie lange diese unwirklich schönen vier Tage im Tessin schon vorbei waren.
Ihren Gedanken nachhängend, ging sie auf der Fußgängerbrücke über den Seerhein und verließ damit das Zentrum der Fastnacht. Sofort war es ruhiger. Als sie gegen halb zehn das Präsidium betrat, spürte sie die angespannte Atmosphäre. Jeder wusste, dass an diesem Tag alles passieren konnte.
Auf
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