Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Vogelkoje
wechselte ein Fahrweg schräg über den Deich. Sie folgten ihm hinab auf die
Innenseite und verließen den Deich schließlich ganz, um der Straße durch die
Marsch in Richtung Boldixum zu folgen. Im Schatten der Vogelkoje waren sie
zunächst etwas geschützt, aber dann peitschte der Wind den Schnee schräg von
der Seite heran. Die Landschaft um sie herum versank im weißen Schleier.
Nach gefühlten fünf Stunden und im Zustand absoluter
Erschöpfung erreichten sie schließlich in der Abenddämmerung die ersten
Bauernhöfe und Friesenhäuser Boldixums und flüchteten sich in den
Siedlungsbereich, um wenigstens einigermaßen geschützt weitergehen zu können.
Sie folgten dem Verlauf der alten Dorfstraße, überquerten die Hauptstraße
zwischen dem Hafen und den Inseldörfern und gingen ein kurzes Stück der
Boldixumer Straße bis zur Fußgängerzone, die bei diesem Wetter geradezu
ausgestorben war. Die Lichter aus dem Gastraum des Colosseum erschienen
ihnen plötzlich gar nicht mehr spießig, sondern symbolisierten eine geradezu
paradiesische Gastlichkeit. Nach kurzer Beratung kehrten Leander und Lena hier
ein.
Sie suchten sich einen abgelegenen Tisch, bestellten Grog und
studierten die Speisekarte. Kurz darauf spürten sie dem Rum nach, der sich
fühlbar in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Es war, als transportierten die
Adern eine Art Frostschutzmittel durch ihre vereisten Gliedmaßen. Schließlich
bestellten sie Aufschnittplatten nach Art des Hauses und Bier.
Der Abend im Restaurant des Colosseum wurde lang und mit
ansteigender Bierzahl immer lustiger. Lena zeichnete in leuchtenden Farben ein
Bild ihres zukünftigen Lebens als Vogelzählerin und Leander frotzelte mit,
obwohl er unablässig das Gefühl hatte, dass die Sache für Lena ernster war, als
sie zugeben wollte.
Als sie schließlich Arm in Arm und nicht mehr so ganz gerade
durch die Fußgängerzone nach Hause schlenderten, machte ihnen die Kälte nichts
mehr aus, obwohl der Schneefall eher noch zugenommen hatte. Irgendwann drehte
Lena sich um und bekam einen Lachkrampf. Sie wies Leander auf die
Schlängellinie hin, die ihre Spuren im Schnee hinterlassen hatten.
»Das wird allmählich zur Gewohnheit«, sagte sie. »Sollst sehen,
bald wissen die Insulaner, dass sie uns ganz unauffällig mit Hilfe unserer
Schlangenlinien observieren können.«
Vor ihrem Friesenhaus nestelte Leander gerade mit dem Schlüssel
vor dem heute Abend unglaublich kleinen Schlüsselloch herum, als Frau Husen
plötzlich neben ihnen stand.
»Lassen Sie mich das machen«, sagte sie vorwurfsvoll, griff
nach Leanders Schlüssel und öffnete die Haustür. »Kommen Sie!«
Leander und Lena folgten ihr erstaunt. Als sie im Flur standen
und die Tür wieder geschlossen war, räusperte sich Frau Husen verlegen.
»Also«, begann sie dann entschlossen, »ich weiß zwar nicht, ob
es etwas zu bedeuten hat, aber ich dachte mir, es könnte ja nicht schaden, wenn
ich Sie in Kenntnis setze.«
»Setzen Sie, Frau Husen, setzen Sie!«, forderte Leander sie
albern auf, vermied es aber, dabei zu grinsen oder Lena anzusehen.
Frau Husen fixierte ihn einen Moment lang, schien dann aber zu
beschließen, die merkwürdige Anwandlung seinem alkoholisierten Zustand
zuzuschreiben und nicht beleidigt zu sein.
»Also«, startete sie erneut. »Bei mir ist eingebrochen worden.«
»Frau Husen!«, rief Leander ehrlich bestürzt.
»Neinnein«, lenkte die Frau ein, »nicht wie Sie jetzt denken.
Es ist nichts gestohlen worden. Ich habe nur bemerkt, dass mit meinem Schloss
etwas nicht stimmte. Im Haus war dann alles in Ordnung. Das heißt, es fehlt
nichts, und es ist auch nichts zerstört oder so. Nur die Schlüssel waren unordentlich,
und deshalb bin ich hier.«
»Die Schlüssel?«
Leander verstand gar nichts mehr.
»Unordentlich?«, hakte jetzt auch Lena nach. »Wie sehen denn
unordentliche Schlüssel aus?«
»Nun ja«, Frau Husen war sichtlich verlegen. »Bei mir hat alles
seinen festen Platz, wissen Sie, und das gilt auch für die Schlüssel am
Schlüsselbrett. Und Ihr Schlüssel« – sie wandte sich jetzt wieder an Leander –
»hing anders als sonst.«
»Krumm, oder wie?«
Leander verstand noch immer nicht.
»Quatsch!«, schimpfte Frau
Husen jetzt. »Der Schlüssel hängt immer am zweiten Haken. Immer, verstehen Sie?
Und als ich heute Abend nach Hause kam, hing er am ersten Haken. Da hat aber
vorher meiner gehangen, der, den ich mitgenommen habe. Also hätte der erste
Haken frei sein
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