Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
haben sich in der Nähe von London niedergelassen, aber die englischen
Behörden haben ihnen nicht die Genehmigung gegeben, ihren Sohn wieder
aufzunehmen, weil ihr Aufenthalt nur zeitlich begrenzt gestattet wurde. Als die
Bombardements auf London begannen, haben sie sich das Leben genommen, wohl aus
Angst vor einer Invasion der Deutschen. Dann wäre die Chance, ihren Sohn in
absehbarer Zeit wiederzubekommen, wohl gleich null gewesen. Wahrscheinlich hätte
man sie sogar direkt in ein Vernichtungslager in Polen verschleppt. Stewart
Williamson hat durch den Genealogen erst vor Kurzem erfahren, dass seine Eltern
ihm nach England gefolgt sind.«
»Das heißt«, folgerte Leander, »nach seiner Ausreise im Jahre
1938 hat der Junge seine Eltern nie wiedergesehen. Er muss davon ausgegangen
sein, dass sie in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis ermordet worden sind.«
»Stattdessen haben sie sich ganz in seiner Nähe das Leben
genommen. Mein Gott, was für eine Geschichte«, beendete Lena die
Zusammenfassung.
»Unfassbar, aber genau so muss es gewesen sein. Und nach seiner
Entdeckung der Familiengeschichte war Stewart Williamson hier auf der Insel, um
mit meinem Großvater und seinen Freunden zu reden.«
»Natürlich, er wollte den Fluchtweg seiner Eltern kennenlernen
und sich bei den Fluchthelfern bedanken. Es bestand also überhaupt kein Grund
dazu, ihn zu töten; ganz im Gegenteil, er war der Beweis für die heldenhaften
Taten der alten Männer. Und irgendwelche Grundstücksgeschäfte haben bei alldem
überhaupt keine Rolle gespielt.«
Leander legte die Zettel auf den Tisch und lehnte sich zurück.
»Tatsächlich ein Unfall also.«
»Oder Selbstmord«, ergänzte Lena, »aber mit ziemlicher
Sicherheit kein Mord, denn dafür gab es keinen Grund.«
»Warum dann der Streit zwischen den alten Männern, nachdem
Williamson verunglückt ist?«
»Wer weiß, vielleicht war das Misstrauen zwischen ihnen so
groß, dass sie einen Mord für möglich gehalten haben«, überlegte Lena.
»Dann muss es doch etwas geben, dessen Enthüllung sie all die
Jahre gefürchtet haben. Und Hinnerk und Wilhelm Jörgensen haben Petersen und
Jessen die Tat zugetraut, weil die beiden am meisten zu verlieren haben. Ocko
Hansen stand wie immer dazwischen, hat sich aber schließlich auf die Seite der
Stärkeren gestellt, gegen seine Freunde Wilhelm und Hinnerk.«
»Dann müssen wir ja nur noch herausbekommen, was es zu
verheimlichen gibt«, beendete Lena seine Gedanken sarkastisch.
17
Mittwoch, 31. Dezember
Den Silvester-Vormittag verbrachten Leander und Lena mit
Einkäufen. Die Vorräte, die sich noch im Haus befunden hatten, waren
aufgebraucht oder nicht mehr hinreichend, um damit den Neujahrstag überbrücken
zu können, und immer nur auswärts essen gehen wollten die beiden auch nicht.
Also fuhren sie Leanders Volvo direkt vor den Supermarkt im Gewerbegebiet am
Hafen und deckten sich so ein, dass es wieder eine Weile reichen würde.
Nachdem sie die Lebensmittel zu Hause verstaut hatten, brachten
sie den Wagen zurück auf den Parkplatz am Heymannsweg und liefen auf dem
Rückweg das kurze Stück über den Binnendeich bis zum Rathausplatz, von dort aus
über den Sandwall und weiter über die Strandpromenade in Richtung
Nordsee-Kurpark.
Das Meer lag unter einer Eiskruste, die es wie einen Teich aus
Aluminium wirken ließ. In der Ferne ragten die Warften der Hallig Langeneß wie
die viel zitierte Perlenkette aus der Fläche und umgaben sich schüchtern mit einem
Dunstschleier. Am Strand hatten sich in den letzten Tagen Eisschichten übereinander
geschoben und krustige Gebilde entstehen lassen, die so unwirklich aussahen,
dass der Sandstreifen nichts mehr mit dem begehrtesten Platz des Sommers gemeinsam
hatte.
Leander und Lena fröstelten im eisigen Ostwind, der an Stärke
ständig zunahm, als wolle er die Insel nun endgültig in die Knie zwingen. Erst
im Park waren sie einigermaßen geschützt, doch an eine Pause auf einer der
Bänke war heute nicht zu denken. Der Wind brauste in den Baumwipfeln und
schüttelte sie dermaßen, dass Eiskristalle von den Ästen niederregneten.
»Lass und zurückgehen«, schnatterte Lena. »Das fehlte noch,
dass wir am letzten Tag des Jahres von einem Eiszapfen erschlagen werden.«
Also wählten sie den Rückweg durch die angrenzenden Ferienhaus-und Wohnsiedlungen auf der Rückseite des Parks, zunächst die Gmelinstraße
entlang, dann ein Stück die Badestraße hinunter. Sie machten noch einen
Schlenker durch
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