Leb wohl, Schlaraffenland: Die Kunst des Weglassens (German Edition)
persönlichen „Nichtmehrseins“ hinweg.
Wie würdest du antworten, wenn dich jemand fragen würde, ob es dich oder dein Bewusstsein nach deinem Dahinscheiden noch gibt.
Roland Düringer: Ich weiß schlichtweg nicht, ob es nach meinem Tod noch irgendeine Form meiner Identität geben wird, die ich wahrnehmen kann. Ich weiß es nicht! Mir fehlen diesbezüglich die Erfahrungswerte.
Zu behaupten: „Ja, es gibt mein Bewusstsein auch noch nach dem Tod und meine Seele lebt weiter“, oder auch zu sagen: „Nein, es ist für mich dann alles aus und vorbei“, wäre reines Kaffeesatzlesen. Wir wissen es nicht.
Wir wissen aber nach dem heutigen Stand der Forschung, dass jeder Organismus anfängt, sich zu zersetzen, dass Bakterien in uns leben, die auch danach noch in uns ihre Aufgaben erfüllen: Zersetzung, Verarbeitung, Kompostierung. Die Keime, die uns eines Tages zerlegen werden, befinden sich schon jetzt in uns.
Clemens G. Arvay: Hast du Angst vor dem Sterben?
Roland Düringer: Vor dem Tod selbst habe ich keine Angst. Er könnte eines Tages auch ein guter, willkommener Freund sein. Wenn es nach dem Tod für mich nichts mehr gibt, also auch das Bewusstsein endet, dann brauche ich keine Angst zu haben. Vor „nichts“ braucht sich niemand zu fürchten. Nichts tut nicht weh. Es ist eben nichts. In der Zeit vor meiner Geburt habe ich mich auch nicht gefürchtet.
Clemens G. Arvay: Von diesem Standpunkt aus betrachtet könnte man sagen: Vor deiner Geburt warst du eine Ewigkeit lang nicht . Jetzt befindest du dich in einem kleinen Zeitfenster, in dem du existierst vielleicht 90 Jahre lang. Danach bist du, genauso wie davor,wieder eine Ewigkeit lang nicht . Von jedem beliebigen Zeitpunkt nach deinem Leben aus betrachtet erscheint es dann für dich als völlig irrelevant, ob du je hier warst oder nicht. Du bist dann wieder im Zustand der ewigen Nicht-Existenz, so wie vor der Geburt, ohne Erinnerung an dein Leben. Es ist, als wärst du nie gewesen.
Nur für die Nachkommen macht es einen Unterschied, ob es dich gegeben hat oder nicht. Du kannst der Welt etwas von dir hinterlassen. Aber aus deiner eigenen Sicht ist es, sofern man davon ausgeht, dass auch dein Bewusstsein wieder erlöschen wird, so, als wärst du nie hier gewesen.
Vor der Geburt warst du nicht. Daher konntest du unter dem Nichts auch nicht leiden. Nach dem Tod ist auch niemand mehr da, der unter dem Nichts leiden kann. Aber dieses Zeitfenster dazwischen – das hat es in sich! In dieser Zeit bist du sehr wohl mit dem Nichts konfrontiert, und zwar in Form dessen, was auf dich wartet. Das Leiden entsteht also in der Erwartung des Nichts, nicht aber durch das Nichts. Nur während der Zeit deiner Existenz kannst du wissen, dass es auch etwas zu verlieren gibt.
Ich zum Beispiel empfinde die Natur als wunderschön und liebe es, durch meinen Garten zu streifen, in der Erde zu graben, meinen Acker zu bearbeiten, Früchte zu ernten und Tiere zu beobachten. Wenn ich im Gebirge von einem felsigen Gipfel über die weite Landschaft blicke und dabei von Ehrfurcht ergriffen bin, kommt auch der Wunsch in mir auf, an der Schönheit der Natur für immer teilhaben zu können. Ich gebe ganz offen und ehrlich zu, dass mich der Gedanke daran schmerzt, die wunderschöne, kraftvolle Natur eines Tages nicht mehr ansehen und erleben zu können. Sie – die Natur – wird auch in vielen Jahrtausenden noch beeindruckend sein. Wir werden aber nicht mehr hier sein, um sie wahrzunehmen. Diese Vorstellung tut mir weh, weil ich jetzt bin und mich damit auseinandersetzen muss. In dieser Situation erscheint mirpersönlich der Gedanke, dass ich später unter dem Nichts nicht leiden würde, nur wenig hilfreich.
Roland Düringer: Vielleicht hast du soeben erklärt, worin der Grund für unser Dasein besteht. Es könnte doch sein, dass wir durch unser Menschsein der Natur die Möglichkeit geben, sich selbst zu sehen oder von jemandem gesehen zu werden. Verstehst du, was ich damit meine?
Warum ist die Natur so ästhetisch? Es könnte ja auch alles ganz fürchterlich hässlich sein. Warum ist eine Blume so schön?
Clemens G. Arvay: Ich verstehe deinen Gedanken. Andererseits muss man natürlich auch berücksichtigen, dass der Evolutionsprozess des Menschen hier auf diesem Planeten abgelaufen ist. Wir haben uns aus der Natur entwickelt, mit ihr und in ihr. Unsere ästhetische Wahrnehmung wurde also über Jahrtausende und Jahrmillionen durch die Natur geprägt, deren Teil wir sind. Es ist
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