Lebe lieber übersinnlich - 02 - Dreams 'n' Whispers
anzustupsen, auch wenn ich mein Bestes tat, um ihm auszuweichen. So viel übrigens auch zu diesen Märchenbildern von Rittern auf Einhornhengsten. Dieses hier hätte noch nicht mal ein Kind tragen können, geschweige denn einen ausgewachsenen Mann in Ritterrüstung. Es ging mir gerade mal bis zur Brust, was seinem Schnauzengestupse eine weitere, äußerst unangenehme Dimension verlieh.
Jack hing kopfüber von einem Ast an einem der umliegenden Bäume. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, aber es war warm genug, dass ich mich unwohl in meiner Jacke fühlte und die Sonne, die durch die Blätter fiel, einen grüngoldenen Dunst in der Luft erzeugte. Ehrlich, die Wiese an sich war geradezu zauberhaft schön, wenn dieses verpiepte Einhorn nicht die ganze Idylle ruiniert hätte.
Jack lachte über meine Bemühungen, mich den Annäherungsversuchen dieses mythologischen Biests zu entziehen. »Sieht aus, als wärst du noch Jungfrau.«
»Klappe! Als ginge dich das was an!«
Er zuckte mit den Schultern, auch wenn die Geste kopfüber nicht ganz so gut wirkte. »Einhörner lieben Jungfrauen. Hast du dich denn gar nicht informiert?«
»Du dich etwa?«
Er machte einen Salto von seinem Ast herunter und erschreckte das Einhorn damit so sehr, dass es davongaloppierte. Gott sei Dank. »Du kennst doch bestimmt noch die eisernen Aktenschränke in der Zentrale – die sind gar kein so großes Problem, wenn man eine Pforte in jeder beliebigen Wand öffnen kann und keine Fee ist.«
»Aha, du liest also geheime Akten?«
»Unter anderem. Irgendwer sollte Raquel wirklich mal sagen, dass sie mit der Zeit gehen muss. Papier ist ja so was von mittelalterlich. So.« In einer übertrieben gentlemanhaften Geste bot er mir seinen Ellbogen an. »Wir wär’s, wenn wir jetzt gehen und uns endlich mal richtig amüsieren?«
»Ach, hat es dir etwa noch nicht gereicht, meinen einzigen noch intakten Kindheitstraum zu zerstören?« Feen hatten keine Flügel und waren ziemlich miese Typen, Kobolde waren schmutzig und wild und obendrein meistens bissig und Meerjungfrauen hatten weder wunderschönes Haar noch Muschel-BHs. Und jetzt auch noch die Einhörner. Manchmal war die Realität echt zum Piepen.
»Du kannst natürlich auch dem Einhorn hinterherrennen, wenn dir das lieber ist. Mach einen kleinen Ausritt.«
Ich erschauderte bei dem Gedanken und setzte mich hin, den Rücken an den Baumstamm gelehnt. Dann zog ich den Reißverschluss meiner Jacke auf. »Nein danke. Aber lass uns doch ein bisschen hierbleiben. Es ist so schön warm.«
Jack ließ sich neben mich plumpsen und legte sich flach auf den Rücken, die Hände unter dem Kopf verschränkt. »’nen warmen Ort kann ich immer finden.«
»Muss schön sein.«
Er lachte. »Ist ganz praktisch.«
»Wo genau sind wir eigentlich?«
»In einer Art übernatürlichem Reservat für paranormale Wildtiere, die kurz vor dem Aussterben stehen. Die Einhörner sind die verbreitetsten von allen. Und diejenigen, die am stärksten müffeln.«
»Das kannst du laut sagen. Und, was kennst du sonst noch so für Geheimnisse?«
»Wenn ich dir die erzählen würde, wäre der ganze Spaß ja verdorben. Ich überrasche die Leute lieber.« Trotz seiner unschuldigen Miene machte mich irgendwas an seinem Gesichtsausdruck nervös. Ich war schließlich selbst bis zum Platzen voll mit Geheimnissen und genau dasselbe erkannte ich jetzt auch bei Jack.
»Bitte sag mir nicht, dass wir bei unserem nächsten Ausflug dem Yeti ’nen Besuch abstatten.«
»Nee, laut Raquels Schreibkram gibt’s den schon seit der Jahrhundertwende nicht mehr.«
»Seit welcher?«
Er runzelte die Stirn. »Gute Frage. Blöderweise kann ich sie nicht danach fragen, ich sollte ja eigentlich gar nichts davon wissen.«
Ich rutschte ein bisschen hin und her, bis ich eine bequeme Position für meinen Rücken gefunden hatte, dann schloss ich die Augen und versuchte, die Sonne in mich aufzusaugen. »Kommst du oft hierher?«
»Hin und wieder.«
»Wo bist du, wenn du dich nicht in der Zentrale rumtreibst?«
»Zu Hause.«
»Und wo ist das?«
Er seufzte. »Ist das nicht die Frage aller Fragen? Wo ist denn dein Zuhause?«
»Äh, in dem Zimmer, in das du anscheinend mit Vorliebe unbefugt eindringst.«
»Nein, denk noch mal genauer nach. Wenn ich ›Zuhause‹ sage, was kommt dir dann als Erstes in den Kopf?«
Ich zog die Stirn kraus, während hinter meinen geschlossenen Lidern die Bilder vorbeiflitzten. Früher war es mal die Zentrale gewesen, aber mein
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