Leben bis zum Anschlag
erfährt Maika an der Besucherauskunft.
»Anja Merten.«
»Hab ich hier nicht. Da müssen Sie zur Besucherauskunft.«
»Da komm ich her.«
»Dann versuchen Sie’s in der Chirurgie.«
Es gibt drei Chirurgien. Maika versucht es bei der ersten.
»Ich suche Anja Merten.«
Vergeblich. Auch bei der zweiten Chirurgie ist sie an der falschen Stelle.
»Anja Merten? Wird gerade operiert«, erfährt sie in der dritten.
»Operiert? Können Sie mir sagen, was operiert wird?«
»Da muss ich erst nachfragen.«
»Wo kann ich warten? Ich bin die Tochter und hab ihre Sachen dabei.«
»Ich weiß nicht, auf welche Station sie verlegt wird. Moment.«
Der Pfleger telefoniert. Maika wartet. Er verschwindet. Alles dreht sich vor ihren Augen. Andere Pfleger gehen an ihr vorbei. Sie hat plötzlich Angst, den, mit dem sie gesprochen hat, nicht mehr wiederzuerkennen.
»Frau Merten?« Die Stimme kommt von hinten.
Er ist es. »Ja?«
»Sie können die Tasche dalassen. Fahren Sie lieber noch mal nach Hause. Es dauert noch.«
»Kann ich mit dem Arzt sprechen?«
»Nicht während der OP.«
»Ich bin … in Sorge. Nicht bescheuert«, sagt Maika mit letzter Kraft.
»Der Arzt kümmert sich um einen komplizierten Oberarmbruch, das Schlüsselbein Ihrer Mutter ist auch gebrochen. Vor zwei Uhr wird er Ihnen nicht viel sagen können. Hier ist unsere Telefonnummer. Geben Sie mir Ihre? Wir rufen durch, sobald wir mehr wissen.«
Maika kämmt noch einmal systematisch alle Nischen und Ecken vom Keller bis zum Dachboden durch. Keine Spur von Mao. Dann lädt sie ihr Handy auf und putzt die Wohnung. In absehbarer Zeit wird ein/e engagierte/r Sozialarbeiterln aufkreuzen, um die häuslichen Verhältnisse der suchtkranken und alleinerziehenden Mutter in Augenschein zu nehmen. Das wäre nicht das erste Mal. Und ein Bar-Job ist definitiv nicht die beste Referenz für eine minderjährige Tochter, die sich vor staatlicher Einmischung schützen will. Sie muss dringend was machen! Es fehlen zum Beispiel Nahrungsmittel. Der Kühlschrank sollte mit essbarem Zeug bestückt werden. Sie verteilt zerstreut runzlige
Äpfel in Obstschalen und weint. In der verwaisten Wohnung kann sie nicht bleiben.
Gerade mal neun Uhr morgens und schon ist es wieder drückend heiß. Maika lässt von ihrer Handykamera ein Bild von Mao ausdrucken. Unter das Bild schreibt sie ihre Telefonnummer und: Kater gesucht! 100 Euro Belohnung!
Unablässig kreisen ihre Gedanken um den alten Kater, während sie die Suchmeldung fotokopiert. Die Vorstellung, dass er irgendwo in einer Ecke kauert, allein, ängstlich, hilflos, ist ihr unerträglich. Anja wird versorgt, denkt Maika, und Hansen, das Schwein, mach ich fertig, sobald ich Mao gefunden habe.
Sie klebt die Zettel an gut sichtbare Stellen rund um den Wohnblock und bittet alle Kinder, die auf der Straße spielen, bei der Suche zu helfen.
Auf Anjas Stirn zittern Schweißperlen, als Maika ins Krankenhaus zurückkommt.
»Das sind Entzugserscheinungen«, sagt der Arzt.
Maika nickt.
»Sie wissen, dass Ihre Mutter alkoholabhängig ist?«
»Ja.«
»Seit wann?«
»Schon immer.«
»Wir geben zweistündlich Distraneurin und verlegen sie auf die Intensiv. Da haben wir bessere Möglichkeiten zur Überwachung. Ihre Werte sind schlecht.«
»Alles andere wäre ein medizinisches Wunder. Kriegen Sie sie dazu, dass sie einen Entzug macht. Ich kann das nicht mehr.« Maikas Stimme klingt hohl. Lange hält sie es nicht mehr an Anjas Bett aus.
»Für ein psychiatrisches Konsil ist es zu früh.«
»Zu früh?« Bleib ruhig und atme, sagt sie sich und spürt, wie sie innerlich zerfällt.
»Ich meine, ein Beratungsgespräch über Therapiemöglichkeiten macht im Moment keinen Sinn.«
Wieso nicht? Anja liegt in einem fiebrigen Halbschlaf. Wacher oder nüchterner hat Maika sie seit langer Zeit nicht erlebt. »Hör zu, Anja«, sagt sie und drückt ihrer Mutter die zitternde Hand. »Wenn du keinen Entzug machst, siehst du mich nie wieder.«
Track #05
05 Unlucky
Die geflickten Schlaglöcher im Asphalt werfen Blasen auf. An Noras Flip-Flops hängt Teer. Schwitz. Die Schlangen, die für Eis anstehen, stöhnen, seufzen und ächzen. Wer kann, liegt im Freibad und schlürft im Schatten Kaltgetränke. Die ganz Glücklichen sind raus aus der Stadt. Der Rest bewegt sich wie in Zeitlupe. Nora wünscht sich auch weg, mit Keath an die Ostsee, überallhin, bloß nicht Mehmet gegenübertreten.
Er ist noch nicht da, als Nora im Club ankommt.
»Hallo,
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