Leben Ist Jetzt
Auf der anderen Seite wollen sie auch Kind bleiben. Wenn sie sich
in ihrem Kindsein wohl fühlen, dann betrachten sie die Jugendlichen als alt. Dann spotten sie über sie, um sich in ihrer eigenen Identität zu stärken.
„Ich möchte nicht mehr zwanzig sein!“, sagen die einen, die die Schwierigkeiten, unter denen junge Menschen aufwachsen, sehen. Andere
trauern gerade dieser Zeit der Jugend nostalgisch nach. Wer sagt, er möchte nicht mehr zwanzig sein, drückt damit seine Zufriedenheit mit seinem jetzigen
Alter aus. Er ist froh, dass er manche Unreife hinter sich gelassen hat. Er hat es nicht mehr nötig, anderen zu imponieren. Er ist gerne so alt, wie er
ist. Er hat die Vorteile seines Alters erfahren: seine Gelassenheit, seine Reife, seine Erfahrung. Er hat es nicht mehr nötig, sich zu beweisen. Er hat
sich und der Welt schon bewiesen, dass er etwas kann, dass er einen Wert hat. Jetzt fühlt er sich frei.
Wer dagegen seiner verflossenen Jugend nachtrauert, bekennt damit, dass er sich eigentlich von seiner Jugend her definiert. Er sieht
seinen Wert nur darin,jung auszusehen, von anderen umschwärmt zu werden, bewundert zu werden. Letztlich drückt er mit seinem Nachtrauern
seine eigene Unreife aus. Er ist innerlich stehen geblieben. Er ist mit dem äußeren Alter nicht mitgewachsen. Er hat sich psychisch nicht
weiterentwickelt. Daher erlebt er einen Zwiespalt zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein möchte.
Wer gerne lebt, der lebt – in der Situation, in der er sich gerade biographisch befindet – auch den Abschnitt seines
Lebens gerne, in dem er jetzt steht. Er ist letztlich ein Lebenskünstler, während der, der seiner vergangenen Jugend nachweint, nicht wirklich zu leben
versteht.
Sein Alter akzeptieren heißt, seinem Alter entsprechend leben
Wie stellt man fest, dass man älter wird, wie, ob man alt ist? Ein äußeres Merkmal, dass ich älter werde, ist sicher das
Geburtsdatum. Das soll ich nicht überspringen. Aber ob ich mich mit so und soviel Jahren schon alt fühle, ist etwas anderes. Ich gestehe mir ein, dass ich
nicht mehr fünfzig bin. Der erste Schritt besteht also darin, es mir bewusst zu machen, wie alt ich bin. In mir kommen dann unwillkürlich Erinnerungen und
Vergleiche hoch. Als mein Vater 65 war, was hat er da noch getan, wie habe ich ihn da erlebt? Oder wenn ich meine Mitbrüder anschaue, die jetzt 70 und 80
Jahre alt sind. Wie haben sie in meinem Alter gelebt? Dann merke ich, dass sie in diesem Alter immer noch sehr aktiv und vital waren und es auch teilweise
heute noch sind.
Ein zweiter Schritt besteht darin, mir einzugestehen, dass ich älter geworden bin und nicht mehr die gleiche Kraft habe wie früher. Ich kann immer noch
mit dem Auto zu Vorträgen fahren. Ich habe immer noch Lust zum Bücherschreiben. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass ich mehr arbeite als
früher. Aber ich muss mit fortschreitenden Jahren auch akzeptieren, wenn der Körper mir Signale sendet, die ich früher so nicht kannte. Wenn ich mich
nachts beim Heimfahren müde fühle, oder wenn ich Angst vor einer weiten Fahrt im Winter habe, dann merke ich, dass ich die Impulse meines Leibes und
meinerSeele ernst nehmen muss. Ich muss mir eingestehen, dass das nicht alles immer so weiter geht, dass mir das Alter auch Grenzen
setzt, die ich akzeptieren muss. Gerade die Angst vor weiten Fahrten nehme ich nicht als etwas, das ich überwinden muss, sondern als Ausdruck meiner
Seele, die mich auf mein Maß hinweisen möchte.
Das Alter zu akzeptieren heißt für mich nicht, dass ich jetzt nichts mehr kann und mich zur Ruhe setze. Es geht nur darum, meinem
Alter entsprechend zu leben und mir manches einzugestehen, was nicht mehr so geht wie früher. Für manche Aufgaben habe ich nicht mehr die
Spannkraft. Dafür habe ich mehr Gelassenheit und mehr Erfahrung und die Vorträge setzen mich nicht mehr unter Druck. So gleicht das Alter manches aus. Ich
brauche nur ein Gespür, dass ich meinem Alter gemäß arbeite und lebe und mich auch so fühle. Ich brauche nicht den alten Greis zu mimen. Aber ich muss
auch nicht die Jungen kopieren. Ich bin so alt, wie ich bin: Wenn ich das akzeptiere, bleibe ich innerlich lebendig. Aber mein Daseinsgefühl hat sich
gewandelt. Ich fühle mich heute anders als vor zehn Jahren. Wie ich mich in zehn Jahren fühlen werde, weiß ich nicht. Ich nehme mir jedoch vor, nicht nur
die Signale meines Körpers ernst zu nehmen,
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