Leben Ist Jetzt
sich damit aussöhnt, dass seine biologische Lebenslinie abnimmt, der wird psychologisch reifer, dessen psychologische Lebenslinie wird
weiter nach oben zeigen. In der Lebensmitte beginnt ein Paradigmenwechsel. Es geht nicht mehr darum, nach außen noch mehr zu erreichen. Die Seele meldet
sich in Träumen oder auch in psychosomatischen Beschwerden zu Wort und zeigt, dass wir uns der inneren Welt zuwenden sollen. Wer diesen Weg nach innen
verweigert, der wird immer rastloser. Er verdrängt die Regungen seiner Seele, indem er sich ganz und gar aufdie Arbeit verlagert oder
indem er auf einmal konservativ wird und die äußeren Normen absolut setzt. Das vorschriftsmäße Benehmen wird zum „Ersatz für die geistige Wandlung“.
In der Lebensmitte müssen wir uns mit den bisher verdrängten Schattenseiten auseinandersetzen. Das, was sich in der Seele tut, will
beachtet werden. Der Weg geht mehr nach innen und nicht mehr nur nach außen. Wer diesen Richtungswechsel in der Lebensmitte überspringt, der bleibt
innerlich stehen. Er verkrampft sich immer mehr. Und er tut sich schwer damit, älter zu werden. Er möchte an seiner Jugend festhalten und bleibt innerlich
stehen. Es entwickelt sich nichts mehr in ihm. Daher ist die bewusst erlebte Krise der Lebensmitte die Bedingung, dass wir in guter Weise alt werden
können und uns den Themen stellen, die das Älterwerden mit sich bringt.
Das Ausscheiden aus dem Arbeitsleben – ein bedeutsamer Einschnitt
Wenn für einen Menschen von einem Tag auf den anderen Beruf, Firma, Karriere, Leistung, Verantwortung für andere keine Rolle mehr
spielen, kann das zur Lebenskrise werden. Das Ausscheiden aus dem Beruf ist also ein radikaler Einschnitt im Prozess des Älterwerdens. Viele trifft dieser
Schnitt völlig unvorbereitet. Sie haben sich nur vom Beruf her definiert. Jetzt fühlen sie sich als Nichts. Da ist einmal das verunsicherte
Selbstwertgefühl. Manche trauen sich gar nicht zu sagen, dass sie schon pensioniert sind. Denn sie können mit der neuen Rolle noch nicht umgehen. Sie ist
ihnen noch fremd. Bei anderen gerät das Leben durcheinander. Sie verlieren den Rhythmus und den Sinn in ihrem Leben. Manche fangen das Trinken an, weil
sie mit der leeren Zeit nicht umgehen können. Es ist unsere Aufgabe, uns auf diesen Einschnitt vorzubereiten. Eine wichtige Vorbereitung ist, dass wir uns
bereits jetzt nicht allein vom Beruf her definieren, dass wir nicht aufgehen in der Rolle, die der Beruf uns gibt, in der Rolle des Lehrers, des Arztes,
des Polizisten, des Abteilungsleiters. Wer sich nur von einer bestimmten Funktion her definiert, der verliert sich selbst, wenn dieses Gerüst wegfällt. Es
gibt uns zwar eine gewisse Sicherheit. Aber wir sollten schon, während wir bestimmte Rollen zu spielen haben, eine innere Distanzdazu
aufbauen. Wir dürfen nicht in der Rolle aufgehen. Daheim in der Familie spielen wir eine andere Rolle. Auch in der Freizeit fällt uns eine andere Rolle
zu. Wer sich daran gewöhnt hat, nicht nur in einem einzigen Bezug zu leben, sondern ganz bewusst verschiedene Rollen zu spielen, tut sich leichter, wenn
etwa der Beruf oder ein bestimmtes Amt wegfällt.
Eine andere Weise der Vorbereitung wäre, sich schon als Berufstätiger einige Hobbys zuzulegen. Das kann das Lesen sein, Musizieren, die Pflege des
Gartens oder Wandern. Dann werden wir uns darauf freuen, Zeit für unsere Hobbys zu haben. Oder wir fragen uns, wo wir uns engagieren und etwas Sinnvolles
für andere tun können, in ehrenamtlichen Tätigkeiten: sei es Mitarbeit in der Gemeinde oder das Engagement für einen Verein oder für bestimmte Projekte in
der Kommune, in der ich lebe, oder auch weltweite Projekte wie der Naturschutz oder der Einsatz für Flüchtlinge oder Migranten.
Letztlich ist es auch eine spirituelle Herausforderung, sich auf den sogenannten Ruhestand vorzubereiten. Ich frage mich, was ich eigentlich aus meinem
Leben machen und welchen Sinn ich ihm geben möchte. Da kommen Grundfragen hoch wie: Wer bin ich eigentlich? Worauf setze ich? Wohin gehe ich? Woher
definiere ich mich? All diese Fragen führen mich letztlich auf den eigentlichen Grund meines Lebens, der trägt, auch wenn das Fundament der Arbeit und der
beruflichen Rolle wegfällt.
Wer Lust hat, soll bis ins hohe Alter arbeiten können
Die Zürcher Journalistin Klara Obermüller hat ein aufschlussreiches Buch über die Zäsur des Ruhestandes geschrieben. Ihre Erfahrung
gilt
Weitere Kostenlose Bücher