Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst
Laborkittel anzustarren. Ein echter Naturwissenschaftler! Was der alles über die Welt wissen muss!
»Ist es das?«, fragt Dr. Grady.
Ich muss verwirrt aussehen, denn er streckt die Hand aus und tippt auf das Fernrohr in meinen Armen.
»Oh!«, rufe ich errötend aus. »Ja, das ist es.« Ich übergebe ihm das Fernrohr, und er setzt sich auf eine Bank in der Nähe, um es auszupacken. Nachdem er die obere Hälfte freigelegt hat, hält er inne. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen lässt er den Kopf in die Hände sinken und fängt an zu weinen. Lizzys Augen sehen aus, als wollten sie ihr aus dem Kopf springen.
»Was machen wir jetzt?«, flüstert sie leise.
Ich schüttle völlig ratlos den Kopf. Das einzige Mal, dass ich einen erwachsenen Mann habe weinen sehen, war, als mein Dad eine Folge der Antiques Roadshow im Fernsehen angeschaut hat – da entpuppte sich eine Kupferkanne, die jemand bei einem privaten Flohmarkt gekauft hatte, als früheres Eigentum von Benjamin Franklin.
Jetzt ist das etwas total anderes.
Mit einem letzten Zucken seiner Schultern wischt sich Dr. Grady die Augen mit dem Handrücken ab. »Tut mir leid, Kinder«, sagt er. »Ich hatte immer schon nah am Wasser gebaut. In der Schule bin ich deswegen gnadenlos gehänselt worden.«
Ich halte Dr. Grady den Umschlag entgegen und er greift zögernd danach. Beim Lesen des Briefs entfahren ihm ab und zu Wimmerlaute.
Ich führe meine Unfähigkeit, ihn zu trösten, darauf zurück, dass Mom mir kein richtiges Haustier erlaubt.
Dr. Grady steckt den Brief in seine Kitteltasche und wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem Fernrohr zu. »Ich hätte mir im Leben nicht träumen lassen, dass ich das noch einmal sehen würde«, sagt er und betrachtet es liebevoll. »Ihr müsst mir erzählen, wie es in euren Besitz gelangt ist.«
Ich öffne den Mund, um ihm zu antworten, als Lizzy sagt: »Wir erzählen es Ihnen unter einer Bedingung.«
Ich werfe ihr einen empörten Blick zu. Was denkt sie sich eigentlich?
Dr. Grady schaut belustigt drein. »Und die wäre?«
»Dass Sie uns den Sinn des Lebens erklären«, sagt sie ohne Umschweife. Ich schüttle, zu ihr gewandt, den Kopf.
»Nein, warten Sie«, sagt sie. »Ich meine das Ziel des Lebens . Das meine ich doch, oder?«
Wieder schüttle ich den Kopf. Dr. Gradys Kopf pendelt zwischen uns hin und her.
»Ach, von mir aus, Blödmann!«, sagt Lizzy. »Ich meine, warum sind wir hier? Das möchte ich gerne wissen.«
Ich seufze. »Was sie sagen will, ist: Wie kommen wir hierher? Warum existiert etwas, anstatt nicht zu existieren? Mr Oswald dachte, Sie wüssten es vielleicht.«
Mr Grady reißt die Augen auf. »Der alte Ozzy lebt noch? Unmöglich! Er war schon alt, als ich noch ein Kind war!«
»Nein, nein«, beruhige ich ihn. »Unser Mr Oswald ist sein Enkel.«
Dr. Grady stemmt sich von der Bank hoch. »Na, das ist beruhigend«, sagt er. »Einen Augenblick lang dachte ich, der alte Ozzy hätte sich eine Zeitmaschine gebaut.«
Ich sperre die Ohren auf. Wenn irgendjemand weiß, wie man eine Zeitmaschine baut, dann Dr. Grady.
»Mach schon«, sagt Lizzy, die wie üblich meine Gedanken liest. »Frag ihn. Ist doch klar, dass du das vorhast.«
»Was soll er mich fragen?«, erkundigt sich Dr. Grady und nimmt behutsam das Fernrohr auf. »Etwas Wichtigeres als die Frage, wie wir alle in diesen Seitenarm am Rande der Milchstraße geraten sind?«
Irgendwie bringe ich es nicht fertig, meine Frage zu stellen. Urplötzlich klingt sie einfach albern.
»Er will wissen, wie man eine Zeitmaschine baut«, verrät Lizzy. »Er versucht es schon seit fünf Jahren.«
»Versuchen ist zu viel gesagt«, erkläre ich hastig. »Vor allem hab ich darüber gelesen. Darüber, wie man in der Zeit rückwärts reisen könnte, genau gesagt. Nicht in die Zukunft oder so was. Ich glaube nicht, dass das geht.«
Er lächelt. »Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass Zeitreisen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur theoretisch möglich sind. Aber du hast recht, alle uns bekannten physikalischen Gesetze deuten darauf hin, dass Reisen in die Zukunft vermutlich nicht machbar sind. Reisen in die Vergangenheit dagegen – also, das möchte ich nicht so ohne Weiteres abschreiben. Da es allerdings keine Möglichkeit gäbe, in die Zukunft
zurückzukehren, würdet ihr dann beide in der Vergangenheit leben und keiner von euch mehr hier in der Gegenwart. Rein theoretisch natürlich. Eine schöne Bescherung. Ziemlich unpraktisch. Und warum, bitte sehr, will ein junger
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