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Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst

Titel: Leben ist kurz, iss den Nachtisch zuerst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Mass
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hole tief Luft und stoße die Tür auf, bevor ich meine Meinung ändern kann. »Ich werde nie etwas erfahren, wenn ich es nicht versuche.« Wir betreten einen Raum, der mit pinkorangefarbenen Seidenstoffen ausgekleidet ist. Auf einem Tisch in der Mitte des Raums brennen Räucherstäbchen. Kristallkugeln jeder Größe sind in den Regalen aufgereiht. Ein Perlenvorhang trennt den Hauptraum von einem zweiten, der dahinter liegt.

    »Okay, das sieht hier ziemlich abgefahren aus«, sagt Lizzy. »Lass es uns kurz und schmerzlos machen.«
    Ich trete vor den Perlenvorhang. »Ähm, hallo? Ist jemand da?«
    Von hinten höre ich ein Rascheln. Eine Hand mit langen, knallig pinkfarbenen Fingernägeln schiebt sich durch den Vorhang. Ich springe zurück und stoße Lizzy um ein Haar eine Kristallkugel aus der Hand. Die Frau, die zu der Hand mit den bunten Fingernägeln gehört, ist nicht älter als dreißig. Sie sieht auch nicht so aus, als hätte sie sehr lange Zähne.
    »Dass isst kein Spielzeuk«, sagt die Frau, nimmt Lizzy die Kugel weg und stellt sie ins Regal zurück. »Wass isst, soll ich euch auss därr Hand läsen?« Sie sieht uns erwartungsvoll an.
    Wir schütteln beide den Kopf. »Wir haben uns wohl in der Adresse geirrt«, sage ich und wende mich zur Tür.
    »Unsinn!«, ruft sie aus. »Niemand kommt auss Värrsähen in Madame Zaleskis Handläsehauss. Heherre Mächte, ssie haben euch hierrherrgäbrracht.«
    Ihr Name, Madame Zaleski, kommt mir bekannt vor. Dad muss ihren Namen einmal erwähnt haben.
    »Sind Sie Madame Zaleski?«, frage ich.
    Sie macht einen kleinen Knicks. »Stätss zu Dienssten. Nun, wärr von euch macht dän Anfank?«
    »Aber das können nicht Sie sein«, sagt Lizzy und mustert die Frau gründlich. »Sie müssten mindestens neunzig Jahre alt sein!«
    Die Frau zieht die Augen zu Schlitzen zusammen. »Ihrr findet, ich ssähe auss, alss wärre ich neunzik Jahrre alt?«
    »Nein, nein, natürlich nicht«, sage ich und werfe Lizzy einen ärgerlichen Blick zu. »Gibt es noch eine andere Madame
Zaleski, die früher an der Strandpromenade gearbeitet hat? Vor dreißig Jahren ungefähr?«
    Die Miene der Frau wird sanfter. »Ah, Grroßmama. Ssie hat mirr alless beigäbrracht, wass ich weiß. Eine Schande, wass ssie mit ihrr gämacht haben.«
    Lizzy und ich wechseln einen Blick. »Was haben sie denn mit ihr gemacht?«, frage ich.
    »Ssie haben ssie von derr Strrandprromenade värrtrrieben, dass haben ssie! Nach zwanzik Jahrren!«
    »Aber warum?«, fragt Lizzy.
    Die Frau wischt die Frage mit einer Handbewegung weg. »Wägen einem Bledssinn! Einem Nichtss! Ssie haben gessagt, ssie wirrde die Leute ärrschrräcken. Wirrde allen dass Gleiche errzählen.«
    Mir beginnt, ein kalter Schauer den Rücken hinaufzukriechen. Ich zwinge mich zu fragen: »Was hat sie ihnen erzählt?«
    Wieder wedelt sie mit der Hand. »Ssie bähaupten, ssie hätte allen Männerrn gessagt, ssie wirrden mit vierrzik stärrben.«
    Die Kälte erfasst jetzt meine Beine und Arme. Lizzy packt mich am Arm. Fest. So fest, dass sie mir das Blut abschnürt. Ich wähle meine Worte sorgfältig. »Mit anderen Worten, Sie sagen, dass Ihre Großmutter eine Schwindlerin war? Und nicht jeder, dem sie das erzählt hat, ist dann auch mit vierzig oder, sagen wir, neununddreißig gestorben?«
    »Natürlich nicht!«, sagt sie. »Aber Großmama war nicht eigentlich eine Schwindlerin. Sie hat nur gern ein paar Dinge zusammengemixt. Es wird langweilig, wenn man immer die gleichen Sachen erzählt. ›Sie werden dem Mann Ihrer Träume in einem Zug begegnen!‹ ›Sie werden zwei Kinder bekommen,
einen Jungen und ein Mädchen.‹ ›Sie werden viele Reisen machen. ‹ Lest mal das Kleingedruckte.« Sie zieht zwei Visitenkarten aus der Tasche ihres langen Rocks und gibt jedem von uns eine. Auf der Karte steht: AUSSCHLIESSLICH ZU UNTER-HALTUNGSZWECKEN .
    »Hey!«, kreischt Lizzy und schaut von der Karte auf. »Was ist denn mit Ihrem Akzent passiert?«
    Die Frau zuckt mit den Schultern. »Wollt ihr, dass ich euch aus der Hand lese, oder nicht? In ein paar Minuten hab ich einen Nagelpflegetermin.«
    »Wissen Sie, dieses Mal lassen wir’s, glaube ich«, sagt Lizzy. »Komm, Jeremy. Lass uns gehen.«
    Ich kann mir schlicht und ergreifend nicht vorstellen, dass meine Beine sich bewegen werden. Ich bin kurz davor, zu schreien. Meine Augen haben angefangen zu brennen, weil ich die Tränen zurückhalte, die ich vor dieser Frau nicht vergießen will.
    Ich schaue ihr direkt in die Augen

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