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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
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Wohnungen durch die Raubzüge zerstört und von 42   000 Bäumen in den Straßen und Parks 20   000 gefällt und verfeuert worden. Fotos, die damals in Amsterdamer Wohnungen gemacht wurden, zeigen Menschen, die auf das Existenzniveau von Höhlenmenschen zurückgeworfen sind: Um den kleinen Ofen, auf den gerade ein Topf passt, kauern Menschen mit grauen Gesichtern; trotz der Kälte oft barfuß, da sie keine Schuhe mehr haben, oder sie schonen müssen für den Gang nach draußen. Auf dem Fußboden liegen Säcke mit dürftigem Brennmaterial. In den Regalen stehen leere Töpfe, und an den Wänden bröckelt der Putz in großen Flecken.
    Auf den Straßen Amsterdams brachen Menschen zusammen und starben auf dem Pflaster, während Passanten vorbeigingen. Die Toten wurden vielfach zum Problem. Es gab immer weniger Holz für Särge, und die Bedürfnisse der Lebenden hatten Vorrang. Außerdem schafften es die Totengräber, die wie alle anderen unter der Mangelernährung litten, nicht, in dem tief gefrorenen Friedhofsboden genügend Gräber auszuheben. Die ausgemergelten Sargträger forderten neben der Bezahlung in Geld ein Brot, kostbarer als Gold in jenen Wochen. Zudem fehlte es an Benzin für motorisierte Leichenwagen.
    Im Februar öffnete sich die Zuiderkerk als Sammelstelle und Trauerort für die Toten, die vorläufig keinen Sarg und kein Grab fanden. Sie lagen dort aufgestapelt, ein Namensschild um die Knöchel; bald stieg ihre Zahl auf 135. Ein großer Ventilator sorgte dafür, dass die Luft erträglich blieb. Mitte des Monats wurde der Notstand so groß, dass die Stadtverwaltung ein eigenes Büro zur »Leichenversorgung« errichtete. Es organisierte Särge – oder Karton – für die Toten, und Pferdewagen, die Sammelfahrten zu den Friedhöfen machten, und dabei nicht selten von den Besatzern beschlagnahmt wurden. In den Zeitungen erschienen Anzeigen: »Tausche 1 Sarg gegen 1 Paar Schuhe + 2 Damenkostüme + 1 Hektoliter Kartoffeln und Mehl.« Es war schrecklich teuer, im Frühjahr 1945 in Amsterdam einen Menschen mit einem Rest von Würde unter die Erde zu bringen.
    In London, wo man über die immer bedrohlicher werdende Nahrungssituation informiert war, entschied die Exilregierung Anfang Februar: Falls das Tauwetter nicht in den nächsten Tagen begann, und damit der Weg für die Transportschiffe frei würde, sollten die niederländischen Eisenbahner den Streik beenden. Als ob der Frost nur auf dieses Signal gewartet hätte: Die strenge Kälte ließ nach, Mitte Februar begann es zu tauen. Am östlichen Rand des IJ sselmeers wurden die Schiffe mit Lebensmitteln startklar gemacht.
    Mit dem neuen Jahr hatte beides zugenommen, der Hunger und die totale Konzentration auf Nahrungsmittel bei den Amsterdamern, aber ebenso der Terror der Besatzer. Die Deutschen setzten alles daran, die zunehmenden Aktionen des Widerstands schon im Keim zu ersticken und sich an den Untergrundkämpfern blutig zu rächen. Das wiederum bestärkte die Widerstandskämpfer, mit ihren Aktionen nicht nachzulassen – die Tage der Unfreiheit waren gezählt.
    Wie jeden Freitagmorgen war für den 27. Januar 1945 um 13 Uhr ein Treffen der Kerntruppe des Amsterdamer Widerstands vereinbart worden, auch Mitkämpfer von außerhalb, wie der Venloer Pastor der Reformierten Kirche Henk de Jong, sollten in die Arbeit eingeweiht werden. Gut zehn Minuten vor Beginn verließ Wally van Hall sein Versteck, das schmale Haus Herengracht 555, fast an der Ecke zum Thorbeckeplein. Erschöpft, abgemagert, übermüdet und angegriffen von der Kälte, aber von ansteckendem Optimismus wie stets, hatte er sich noch mit seinen engsten Mitarbeitern beraten. Sie folgten van Hall im Abstand von einigen Minuten die Gracht entlang, dann links über die Brücke in die Leidsegracht und nach wenigen Metern standen sie vor dem breiten Portal von Haus Nr. 13–15, dem geheimen Treffpunkt.
    Was keiner ahnen konnte: dass sie verraten worden waren und in eine Falle liefen. Um 12 Uhr hatte deutsche Sicherheitspolizei das Haus besetzt. Es war ein leichtes, jeden der Männer, die nach und nach durch das Portal ins Innere traten, zu überrumpeln und festzunehmen. Wenig später fuhr ein Polizeiauto sechs führende Widerstandskämpfer in das nahe Gefängnis Weteringschans, unter ihnen Walraven – Wally – van Hall.
    Der Schock im Untergrund war riesengroß. Als landesweiter Organisator und Geldbeschaffer, als Kontaktmann zu den Amsterdamer Eliten, als ideenreicher Improvisator und Vermittler

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