Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
Edwin Smith, benannt nach dem Forscher, der diese gut viereinhalb Meter lange Schriftrolle aus dem 17. Jahrhundert v. Chr. 1862 von einem Antiquitätenhändler in Luxor erwarb, beschreibt acht Fälle von Tumor- oder Geschwürbefall der Brust. Das Leiden wird darin als unheilbar beschrieben, man könne es höchstens mit einem glühenden Eisen ausbrennen. Heute nennt man dieses Verfahren Kauterisierung, und es wird immer noch angewandt; allerdings haben wir heute schärfere Skalpelle und glücklicherweise außerdem die Narkose. Im alten Ägypten gab es verschiedene Behandlungen für gutartige und bösartige Tumore. »Oberflächentumore« wurden chirurgisch entfernt. Gegen die problematischen bösartigen Tumore wurden verschiedene Mittel wie Hopfen, Rizinusöl und Körperteile von Tieren, zum Beispiel Schweineohren, empfohlen. Der älteste direkt am Körper nachweisbare Fall von Krebs ist ein bronzezeitlicher Frauenschädel, der auf die Zeit zwischen 1900 und 1600 v. Chr. datiert wird. Hier finden wir Spuren eines Tumors ähnlich dem, der heute als Kopf-Hals-Krebs beschrieben wird. Außerdem gibt es eine etwa 2400 Jahre alte peruanische Mumie, die unverkennbar ein Melanom aufweist.
Einige Tausend Jahre danach, während derer der Krebs zweifellos weiter in den Körpern von Jung und Alt wütete, stoßen wir auf einen aufmerksamen und klugen römischen Arzt, Physiologen und Schriftsteller namens Galen, der bereits Krankheitstheorien formulierte, als viele Wissenschaftszweige wie Anatomie, Pathologie und Pharmakologie noch in den Kinderschuhen steckten. Galen praktizierte im 2. Jahrhundert n. Chr. und trug Wesentliches zum hippokratischen Verständnis der Pathologie bei. Hippokrates, daran erinnern Sie sich vielleicht noch aus dem Schulunterricht, gilt als Vater der Medizin, er verfasste im antiken Athen etwa 400 v. Chr. zahlreiche medizinische Werke. Seine physiologischen und philosophischen Beobachtungen sind die Grundlage der modernen Medizin, denn er hat als Erster ausgesprochen, dass Krankheiten natürliche Ursachen haben und nicht von Göttern gesandt oder durch Hexerei verursacht werden. In seinen Schriften findet sich auch bereits die Unterscheidung zwischen gutartigen und bösartigen Tumoren. Hippokrates unterschied die Krebsarten nach den befallenen Körperteilen und nannte die Krankheit als Ganze karkínos, »Krebs, Krabbe«, um damit einen Tumor zu beschreiben, der in Geschwürbildung übergeht.
Eigentlich sieht ein Tumor nicht wie ein Krebs oder eine Krabbe aus, aber Hippokrates fand den Vergleich passend, weil der spezifische Tumor, den er beschreiben wollte, von einem Knäuel entzündeter Blutgefäße umgeben war, was ihn an eine im Sand vergrabene Krabbe mit ausgestreckten Beinen erinnerte. Dieses Bild zeigt uns, dass Hippokrates sich nicht mit den Krebsarten befasste, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind. Stattdessen beschrieb er hauptsächlich große Tumore an oder nahe der Körperoberfläche, etwa der Brust, der Haut, des Halses und der Zunge.
Hippokrates’ Ansichten über Gesundheit und Krankheit ermöglichten es seinen Nachfolgern, seine Konzepte zu erweitern und mit ihnen zu experimentieren; einige davon deuteten schon wahrnehmbar auf eine Definition des Krebses. Galen beschrieb Krebs als einen untrennbaren Bestandteil des ganzen Körpers. Laut Galen wurzelte er fest in einem Überschuss von »schwarzer Galle«, der nicht einfach entfernt werden könne. Diese schwarze Galle überschwemme den ganzen Körper, und die Tumore spiegelten ihre Ausdehnung und hartnäckige Bösartigkeit wider. Versuche, die Tumore durch Herausschneiden zu entfernen, würden auf Widerstand stoßen, weil die schwarze Galle nicht nur das Loch fülle, sondern einen weiteren Tumor entstehen lasse. Galen fehlten zwar unser Fachvokabular und die Instrumente wie Gensequenzierer und Mikroskope, die wir heute haben, aber er traf genau die systemischen Eigenschaften des Krebses und seine Fähigkeit zur Durchdringung, Ausbreitung und Regeneration.
Viele Theorien Galens überdauerten bis in die Renaissance, und Medizinstudenten befassten sich noch im 19. Jahrhundert mit seinen Schriften. Als dann die Pathologen des 19. Jahrhunderts ihre Mikroskope auf die invasiven Zellklumpen der Tumore richteten, entdeckten sie die grausame Ironie des Krebses: Es sind unsere eigenen wuchernden Zellen, nicht irgendeine »schwarze Galle«. Aber sie könnten auch genauso gut schwarze Galle sein, denn sie verhalten sich wie rebellische
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