Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
Klumpen, die Grenzen durchbrechen und andere Gewebe plündern. Was sie mit anderen Krebszellen gemeinsam haben, ist nicht nur die abnorme Form, sondern auch eine rasend schnelle Vermehrung und unkontrolliertes Wachstum. Siddhartha Mukherjee beschreibt diesen Vorgang sehr treffend in seinem Buch Der König aller Krankheiten, das ein buntes historisches Bild der Krebserkrankungen in der Biografie der Menschheit zeichnet.
Auf der molekularen Ebene betrachtet entsteht Krebs durch Veränderungen an den Genen einer Zelle. Normale Zellen verfügen über starke genetische Signale, die ihnen sagen, wann und wie sie sich zur Zellvermehrung teilen sollen. Einige Gene aktivieren die Zellvermehrung; sie fungieren als eine Art Wachstumsbeschleuniger. Andere wiederum sind molekulare Bremsen, die das Wachstum wieder stoppen. Das erklärt zum Beispiel, warum die beim Heilen einer Hautwunde nachwachsenden Zellen mit der Vermehrung rechtzeitig wieder aufhören und keine überschüssige Haut bilden. In einer Krebszelle ist das geniale Gleichgewicht zwischen Aktivität und Inaktivität gestört. Die grünen und roten Ampeln, die sonst den Verkehr des Wachstums regeln, senden falsche Signale und erzeugen zu viele grüne Ampeln. Die Zelle hat dann keinen Regulierungsmechanismus mehr und weiß nicht, wann sie aufhören muss zu wachsen.
Aber diese Betrachtung auf der molekularen Ebene bringt uns nichts für die Entwicklung von Therapien, denn für mich sieht Krebs so aus:
a) Menschliche Leber mit Darmkrebsmetastasen
b) Aufnahme einer Computertomografie (CAT-Scan) von Krebstumoren in der Leber
c) Mikroskopische Aufnahme von Krebs in einem Lymphknoten
Hier haben wir zunächst (a) eine Leber mit Darmkrebs, medizinisch als »Darmkrebs mit Metastasen in der Leber« bezeichnet; das heißt der Krebs hat sich vom Dickdarm bis in die Leber ausgebreitet und dort weitere Tumore, die sogenannten Metastasen, gebildet, die als weiße Klumpen sichtbar sind; (b) die Aufnahme einer Computertomografie einer anderen Leber, die von Darmkrebs befallen ist (wieder »Darmkrebs mit Metastasen in der Leber«, man beachte die fünf rundlichen, dunklen Flecken links im Bild); und (c) eine Mikroskopaufnahme von Darmkrebs in einem Lymphknoten (»Darmkrebs mit Lymphknotenbefall«). Wenn sich »Darmkrebs« in die Lunge ausbreitet, wird er nämlich nicht zu »Lungenkrebs«, sondern bleibt Darmkrebs und sieht auch weiterhin so aus.
Krebs ist die Wechselwirkung einer Zelle, die nicht mehr unter Vermehrungskontrolle steht, mit ihrer Umgebung. Noch wichtiger ist, zu verstehen, dass Krebs nicht einfach eine unkontrollierte Zellteilung und die Ausbreitung einer bestimmten Zellart ist, sondern noch eine andere wichtige Eigenschaft hat: Er kann sich mit der Zeit verändern. Man stellt ihn sich zwar gerne als eine statische Kopiermaschine für Zellen vor, die durchgedreht ist, aber er ist viel schlauer und dynamischer. Jede neue Generation Krebszellen enthält neue Mutationen – Mutationen, die über jene, die in den für die Regulierung von Wachstum zuständigen Zellen bereits vorhanden sind, weit hinausgehen. Noch schlimmer ist, dass Krebs durch Chemotherapie wirkstoffresistente Mutationen entwickeln kann, denen mit der Therapie dann nicht mehr beizukommen ist. Das ist genauso, wie wenn durch den Einsatz von Antibiotika Bakterienstämme entstehen und überleben, die gegen Antibiotika resistent sind. Krebsmedikamente können also tatsächlich zur Entstehung von Krebszellen führen, die gegen ebenjenes Medikament resistent sind.
Aber wir wollten ja die molekulare Ebene verlassen. Wie Sie leicht bei der Betrachtung der Tumore erkennen können, erfolgt die evolutive Selektion von Krebs nach Erscheinungsbild, nicht nach seinen Genen. Ja, jeder Krebs hat unterschiedliche Gene, aber sie sehen alle gleich aus. Vielleicht gibt es 50 verschiedene molekulare Varianten der Krebserkrankung eines bestimmten Körperteils (wie Brustkrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs), aber sie sehen am Ende alle gleich aus und agieren gleich. Wenn ich einem Pathologen zehn verschiedene Brustkrebsfälle von zehn verschiedenen Patientinnen vorlege, dann würden sie unter dem Mikroskop alle wie ein typischer Brustkrebs aussehen, auch wenn die molekularen Grundlagen völlig verschieden sind. Entsprechend gibt es auch eine große Ähnlichkeit zwischen dem Aussehen von Brustkrebszellen und dem von Krebszellen aus anderen Organen, weil Krebszellen in Aussehen und Verhalten viel gemeinsam haben.
Weitere Kostenlose Bücher